gelernter Fleischer, nahm 1948 die Chance zu einem Studium an der Hochschule für Planökonomie in Berlin-Karlshorst wahr. Im selben Jahr der SED beigetreten, wurde er nach dem Examen 1954 Mitarbeiter im Sekretariat Ulbricht, und zwar in dessen Funktion als 1. Stellvertreter des DDR-Ministerpräsidenten, die der Erste Sekretär des ZK der SED damals gleichzeitig innehatte. Als sich der erste Mann der Staatspartei 1960 in Personalunion zum Vorsitzenden des DDR-Staatsrates hatte "wählen" lassen, arbeitete Graf ihm in der Kanzlei des Staatsrates zu - bis zu Ulbrichts Entmachtung. 1971 promovierte er und erhielt eine Professur für Staatsrecht junger Nationalstaaten an der Akademie für Staat und Recht in Potsdam-Babelsberg. Vor diesem biographischen Hintergrund verwundert es kaum, wenn der Autor seine Erinnerungen als Verteidigungsschrift verfasst und seine Erfahrungen und Erlebnisse durchaus kenntnisreich mit der von Ulbricht geprägten Politik der SED verschränkt. Er ist sich indes nicht zu schade, alte ideologische Ladenhüter der Partei feilzubieten. Zum Beispiel preist er die Wahlen in der DDR als "demokratisch", obwohl die Wahlberechtigten im Sinne einer alternativen Entscheidung niemals wählen, sondern lediglich einen Stimmzettel mit Einheitsliste abgeben durften. "Zettelfalten" hieß das in der DDR.
Oder, ein anderes Beispiel, er deutet die von Ulbricht durchgepeitschte Zwangskollektivierung der DDR-Agrarwirtschaft als freiwilligen Zusammenschluss zu landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, obwohl sie die Flucht Tausender Bauern aus der DDR provozierte und Pressionen bis hin zu Verhaftungen unter Bauern einschloss, wenn sie den Eintritt in die LPG verweigerten. Es ist unmöglich, im Rahmen einer Rezension die vielzähligen Behauptungen, bewussten Fehldeutungen, Halbwahrheiten und Legenden aufzuzeigen, die der Autor in seinem Buch auftischt. Es entspricht seiner Tendenz zum postdiktatorischen Geschichtsrevisionismus, wenn er den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes als "Anschluss der DDR an die BRD" begreift oder sich fälschlicherweise dagegen verwahrt, dass in Artikel 17 des Einigungsvertrages die DDR als "Unrechtsstaat" qualifiziert werde. Tatsächlich ist dort von "Unrechtsregime" die Rede, was juristisch einen Unterschied macht.
Dass Ulbricht entscheidend an der Errichtung ebendieses Unrechtsregimes in der DDR mitgewirkt hat, dass er rechtswidrig in politische Strafverfahren eingegriffen hat, dass er in den Geheimprozessen gegen Paul Merker oder Max Fechner oder gegen Oppositionelle wie Wolfgang Harich, Walter Janka, Heinz Brandt und andere eine fatale Rolle gespielt hat, dass Grafs Chef eigenhändig selbst Todesurteile veranlasst oder bestätigt hat - der Autor lässt das alles und mehr in seinen Memoiren ebenso unerwähnt wie den unsäglichen Personenkult, der in den sechziger Jahren in der DDR grassierte. Für Graf war Ulbrichts DDR "ein kleiner, aber ein solider, wirtschaftlich erstarkender, politisch geachteter deutscher Staat", der erst zugrunde ging, als Erich Honecker sein sozialistisches Erbe im Schulterschluss mit Leonid Breschnew verkommen ließ.
Es versteht sich, dass der Autor seine Erinnerungen zu einer prinzipiellen Kapitalismuskritik nutzt. Wie begründet sie auch sein mag, gerade angesichts der gegenwärtigen ökonomischen Krise - die Alternative, die er unter Rückgriff auf Marx und Lenin aufzeigt, verheißen keinen realistischen Ausweg. Graf unterfüttert seine Memoiren mit zahlreichen Zitaten aus Akten aus den Zentralarchiven der Staatspartei und der Staatssicherheit, die er selektiv auswertet. Der zeithistorische Erkenntniswert seines von linker Parteilichkeit durchtränkten Buches ist gering. Allenfalls gewährt es manche Einblicke in den Alltag eines ehemaligen DDR-Staatskaders und in sein politisches Selbstverständnis.
KARL WILHELM FRICKE
Herbert Graf: Mein Leben. Mein Chef Ulbricht. Meine Sicht der Dinge. Erinnerungen. Verlag Edition Ost, Berlin 2008. 542 S., 19,90 [Euro].
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