Leben" setzt der Dekade das fällige Denkmal: "Wir hatten es doch ganz nett in den Siebzigern." Noch eine Satzung also für noch einen Vertriebenenverband zur Pflege des Gedächtnisses irgendeines Jahrzehnts. Heute darf halt jeder seinen ausrangierten "Dual"-Plattenspieler ins Museum der Popliteratur stellen. Doch allmählich weckt auch der Markt der Generationsprosa jenen Verdacht, den Flohmärkte schon lange nähren: So viele hippe Aschenbecher, wie aus den unversiegbaren Trödelkisten quellen, kann es in den echten Siebzigern gar nicht gegeben haben.
Natürlich war auch Frank Goosen nicht in Arkadien, sondern im Archiv - auch wenn der Ruhrgebietstonfall ("Oppa") die mündliche Tradition des Kabaretts aufgreift. Zu jedem Lebensdatum recherchiert der Autor den tagesaktuellen Schlager: Beim ersten Rendezvous der Eltern "hatte Siw Malmkvist die Nase vorn, und zwar mit ,Liebeskummer lohnt sich nicht'". Für historisch-kritische Korrektheit stehen auch eingebaute Wörterbucheinträge wie "Tonne (ugs. für Tornister)". Ganze Erzählungen wirken wie Sammelfußnoten zur Ära von Hans Rosenthal, Ilja Richter und - aber das hatten wir bereits. Allenfalls ein Erlaß gegen Grabräuberei im Schutt des kulturellen Gedächtnisses könnte vermutlich den literarischen Reliquienhandel mit "Braun"-Verstärkern und "Scout"-Schulranzen wirksam eindämmen.
Vielen der Geschichten von Frank Goosen, durch die Verfilmung seines ersten Romans "Liegen lernen" einem größeren Publikum bekannt, merkt man das Stadtmagazinhafte ihrer Erstpublikation an. Fragen wie jene, "warum man stets sechs Socken in die Waschmaschine steckt, aber nur fünf herausbekommt", sind längst beantwortet - damit nämlich den Kolumnenschreibern der Stoff nicht ausgeht. Gelungene Erzählungen legt Goosen dort vor, wo er seine Rolle als augenzwinkernder Held des Alltags aufgibt, um eine sehr schulbuchmäßige Gattung wiederzubeleben: die Schulgeschichte. Auch hier herrscht zwar die Nostalgie eines Abiturtreffens vor, doch in der Skizzierung der "reformierten Oberstufe", als deren Kind sich der selbsterklärte "Dünnbrettbohrer" zu erkennen gibt, läuft Goosen zur Bestform auf. Für die Skizzen des Geschichtslehrers zur Weimarer Reichsverfassung findet er die schöne Formel vom "Isenheimer Altar unter den Tafelbildern", und die Sechs in Kunst wirkt, "als hätte man aus einem Meter Entfernung das Tor nicht getroffen".
Doch Goosens unbestrittenes Können als Chronist der Pubertät mündet - das unterscheidet ihn von Nick Hornby, dessen Liebe zur Plattensammlung der Autor teilt - ausgerechnet dort in Peinlichkeit, wo der Ernst des Lebens aufschimmern soll. All die letzten Gläser im Stehen, Nachtgedanken in Hotelzimmern und Trauerfeiern für verblichene Popmusiker bleiben bloß erwachsene Anlässe für das Heimweh nach den goldenen, pardon: orangenen Jugendjahren. Wer selbst Bilder aus den Siebzigern besitzt, kennt freilich eine ganz prosaische Erklärung für den mysteriösen Farbton dieses Jahrzehnts - das langsame Verblassen des Fotopapiers.
ANDREAS ROSENFELDER
Frank Goosen: "Mein Ich und sein Leben." Komische Geschichten. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004. 224 S., geb., 18,90 [Euro].
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