
Walter
Gebundenes Buch
Mein geheimes Leben, 3 Bde.
Ein erotisches Tagebuch aus dem Viktorianischen England. Mit e. Essay v. Nadine Strossen
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Produktdetails
- Verlag: Haffmans
- Seitenzahl: 3064
- Deutsch
- Abmessung: 195mm
- Gewicht: 1964g
- ISBN-13: 9783251202720
- ISBN-10: 3251202723
- Artikelnr.: 24171698
Herstellerkennzeichnung
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Aus der Vorgeschichte der Dampfmaschine
Bis zur Erschöpfung vollständig: Das geheime Leben eines Mannes namens "Walter" / Von Ulrich Raulff
Es geschähen, notierte Georg Christoph Lichtenberg, die wichtigsten menschlichen Dinge durch Röhren, und nannte zum Beweis Schreibfedern, Gewehrläufe und Geschlechtsorgane. Walter oder wie immer der viktorianische Gentleman geheißen haben mag, dem die Nachwelt eines der bedeutendsten Labortagebücher der empirischen Soziologie verdankt, war kein Held des Schwertes oder der Feuerwaffe. Wohl aber war er ein Virtuose der beiden anderen Lichtenbergschen Kulturinstrumente, ein Paganini des erotischen Treibens und Schreibens. Die Schleier über seiner wahren Identität sind bis heute
Bis zur Erschöpfung vollständig: Das geheime Leben eines Mannes namens "Walter" / Von Ulrich Raulff
Es geschähen, notierte Georg Christoph Lichtenberg, die wichtigsten menschlichen Dinge durch Röhren, und nannte zum Beweis Schreibfedern, Gewehrläufe und Geschlechtsorgane. Walter oder wie immer der viktorianische Gentleman geheißen haben mag, dem die Nachwelt eines der bedeutendsten Labortagebücher der empirischen Soziologie verdankt, war kein Held des Schwertes oder der Feuerwaffe. Wohl aber war er ein Virtuose der beiden anderen Lichtenbergschen Kulturinstrumente, ein Paganini des erotischen Treibens und Schreibens. Die Schleier über seiner wahren Identität sind bis heute
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nicht gelüftet, seine Lebensdaten, vermutlich 1822 bis Mitte der Neunziger: Konjektur.
Einigermaßen gesichert ist allein das Monument, das er seiner lebenslangen Hauptbeschäftigung setzte, der Text seiner sexuellen Abenteuer: In seinen frühen Zwanzigern begann "Walter" Tagebuch zu führen über die grandeurs et misères eines Trieblebens, das stärker war als Erziehung, Wille und Verstand des Autors und das er selbst zuweilen als dämonische Macht schilderte. Das Tagebuch, mehrmals unterbrochen, immer wieder aufgenommen, mündete in den Text der Memoiren, die der reife "Walter" um 1890 in sehr kleiner Auflage - angeblich bloß zum eigenen Gebrauch und Vergnügen - in Amsterdam drucken ließ. Von diesem Tag an war "My Secret Life" ein öffentliches Geheimnis - eine ominöse und skandalöse Frucht, die über Jahrzehnte hinweg Kenner und Verleger anzog und zum ökonomischen und libidinösen Parasitentum einlud.
Als vor nunmehr zwanzig Jahren Michel Foucault den ersten Band seiner Geschichte von Sexualität und Wahrheit veröffentlichte, stützte er seine Attacke gegen die "Repressionshypothese" - wonach die Sexualität im christlichen Abendland unterdrückt und vom Diskurs ausgeschlossen worden sei - auch auf den anonymen englischen Libertin, der von der Idee besessen gewesen sei, "sein Leben, das er nahezu vollständig der sexuellen Aktivität widmete, durch die genaueste Erzählung jeder seiner Episoden zu verdoppeln". Eher als seine Königin, die der angeblich so lustfeindlichen Epoche den Namen gab, könne, so Foucault, "dieser identitätslose Engländer zur zentralen Figur einer Geschichte der modernen Sexualität werden" - einer Geschichte, deren Ziel und Zweck darin bestanden habe, zum Reden über den Sex anzureizen. "My Secret Life" als Symptom einer geheimen Geschichte? Für einen damaligen Leser Foucaults und Übersetzer seines Buches zunächst nur die Erinnerung an eine geheime Lektüre.
Eine verschwommene Erinnerung an die subtabulare Lektüre einer Obersekunda oder Unterprima gegen Ende der sechziger Jahre, blasse Reminiszenz an ein lila oder dunkelgrün eingebundenes Buch (Olympia Press?), das Werk eines anonymen Engländers (in deutscher Übersetzung), ein aufregendes Kompendium verbotener Lüste. War dessen Autor etwa derselbe "Walter" gewesen, war "My Secret Life" längst im Deutschen angenommen? Auf der Suche nach Gewißheit und mit dem Wunsch, Foucaults knappe Anmerkungen eventuell um den Hinweis auf eine deutsche Auswahl zu ergänzen, wandte sich der Übersetzer an einen bekannten Literatursoziologen seiner Universität, den leider kurz darauf verstorbenen Professor M. Von diesem gelehrten Mann ging das Gerücht, er besitze die größte Sammlung von Erotika landauf, landab. Nach nur zwei Tagen war seine Antwort da.
Er wisse, schrieb der Professor, daß er als großer Sammler von Pornographie gelte. Dem sei nicht so. Dann aber folgte, als Negation der Negation, die minutiöseste Angabe, wer jene erste deutsche Auswahl aus "Walter" besorgt und wo er, der Kenner und Sammler, seinerzeit den Band erworben hatte, nämlich auf dem Flohmarkt von Amsterdam. So fanden - dank dem Fußnotenfetischismus eines Übersetzers - in der deutschen Ausgabe von Foucaults "Sexualität und Wahrheit", Band 1: "Der Wille zum Wissen", die Doktores Phyllis und Eberhard Kronhausen ihren gebührenden Platz, während die Auswahl aus "Walter", die wiederum fünfzehn Jahre später in Enzensbergers "Anderer Bibliothek" erschien (schön übersetzt von Reinhard Kaiser), ihre Vorgängerin aus den sechziger Jahren mit keiner Silbe erwähnte - was offenbar das natürliche Schicksal eines Buches ist, dessen Gegenstände die Liebe, das Geld und die Wiederholung sind.
Doch all dies, die Auswahlbände von gestern und vorgestern, sind editorische Knabenstreiche im Vergleich zu dem, was der Haffmans Verlag im offenbar übermächtigen Verlangen nach Vollständigkeit jetzt dem Leser in den Schoß legt: den kompletten "Walter", alle elf Bände des englischen Originals in drei kompakten, dank Dünndruck gerade noch mit einer Hand zu haltenden Bänden, gefällig übersetzt und in rosa Pappmaché gekleidet (wiewohl sich Halbleder empfohlen hätte), von dezent schwarzseidenen Strapsen oder Lesebändchen durchzogen. Angesichts dieser umwerfenden Totalität gerät das Leseerlebnis in bedenkliche Nähe zu gewissen von Walter geschilderten Langzeitsitzungen, bei denen die Lust allmählich vom Schmerz abgelöst wird. Nicht, daß man die schöne mannhafte Anstrengung des Verlages nicht zu schätzen wüßte - aber wer über dreitausend Seiten und durch schätzungsweise elftausend Nummern hindurch einem Wüstling folgt, der sieht am Ende nur noch: Wüste. Und erinnert sich wehmütig der Auswahlbände von einst.
Zumal wenn diese sich, wie der Enzensbergersch-Kaisersche, bevorzugt aus den Anfängen des Werkes und damit aus der juvenilen Frühzeit des Großen Fututors bediente. Neben den bedeutenden sozial-und kulturhistorischen Vorzügen des "Walter", die seine Apologeten nicht müde werden zu rühmen, findet man hier, auf jenen Seiten, da der künftige Untugendheld beschreibt, wie er den Ausgang aus der sexuellen Unmündigkeit fand, ein hinreißend komisches Kapitel humaner Technikgeschichte: verlorene Blätter aus der Vorgeschichte der Luftpumpe, der Dampfmaschine oder der Wasserpistole. Das liest sich ganz Max-und-Moritz-haft erheiternd, zumal der Autor nie daran denkt, sich seiner magischen Vorstellungen gänzlich zu begeben, und an einigem physiologischen Humbug lebenslang festhält. Wie überhaupt der gute "Walter" sich inmitten des Wilhelm Busch'schen Personals, irgendwo zwischen Balduin Bählamm, dem Kandidaten Jobs und Fips dem Affen, gar nicht so übel ausgenommen hätte: Was hier mit beeindruckender Rasanz aus den sittlichen Fugen gerät, ist immer noch als biedermeierliche Welt zu erkennen.
Zurück zur Sache, die immer dieselbe Chose ist. Naturgemäß geht es auf diesen dreitausend Seiten immer nur um das eine, aber das eine hat viele Namen und viele Gesichter, Beine, Bäuche, Dingsbums und so weiter. Das Erzähltempo ist hoch, gelegentlich sehr hoch, und manchmal ist die Geschichte vorüber, kaum daß sie recht begonnen hat, aber solche narratio praecox bildet getreu gewisse Schwächen der hitzigen Natur des Autorsubjekts ab und läßt im übrigen den Hintergrund des Tagebuchs durchscheinen, in dem ein munter dahinplätschernder Lebens- und Liebesbach flüchtig skizzenhaft festgehalten ist. Trotz seines Tempos vermittelt dieser im Zeitraffer abgedrehte andere Bildungsroman des viktorianischen England Szenen, die sich in ihrer Drastik oder ihrem ganz modern anmutenden, spröden Realismus weit über das pornographische Geplapper vieler Seiten erheben, Figuren, die so erstaunlich oder anrührend gezeichnet sind, daß man sie nicht so bald vergißt.
"Walter" entstammt der besitzenden und begüterten Schicht, und er weiß seinen Klassenvorteil in reichen erotischen Gewinn zu übersetzen: Dutzende von Haus-, Küchen- und Kindermädchen, von Landweibern und Arbeiterfrauen werden zur leichten Beute seiner unverschämten Anmache und ihrer eigenen sozialen Inferiorität. Gewiß bringt der Unermüdliche vor allem in späteren Jahren auch Damen der besseren Gesellschaft zu Fall, kultivierte Bürgersfrauen und ehrbare frustrierte Gattinnen. Doch das Leitmotiv des "Geheimen Lebens", darin dem ganz und gar nicht geheimen Treiben seines Jahrhunderts verwandt, ist das Geld. Denn Geld, das allgemeine Äquivalent, ist die Macht, die alles gleichmacht und die unbegrenzte Verfügbarkeit der Ware Lust befördert. Mit einer Frau über Beischlaf reden, schreibt "Walter", bedeute, alle gesellschaftlichen Unterschiede auszulöschen, nur vergißt er dabei, daß, wenn er über Beischlaf redet, er meist zuvor schon über Geld geredet hat. Der wohlhabende Libertin muß freilich nur selten feilschen, und natürlich sind zu seiner Zeit die Kursschwankungen an der erotischen Börse noch gewaltig und kaum vorhersehbar: Fortuna ist noch eine launische Macht. Doch das Drama der Ökonomisierung der Sexualität hat längst begonnen. Daß "My Secret Life" davon nur in prosaischer und komischer Form erzählt, vermag darüber nicht zu täuschen.
Es bedürfte nicht der (den heutigen Leser schockierenden) unbefangenen Bekenntnisse von "Walters" gelegentlich aufflackernden Gelüsten nach Jungfrauen und Kindfrauen, die er sich mit beträchtlichen Summen Geldes und mit Hilfe raffinierter Kupplerinnen zu verschaffen weiß, auch nicht der Erzählungen so mancher Entgleisungen auf der Geisterbahn der Triebe, um sich von der Authentizität dieser seltsamen Memoiren zu überzeugen. "Walter" ist kein phantasierender und fabulierender Sexprotz, er ist nicht einmal ein Karl May des erotischen Abenteuers. Zu hoch ist in seinem Text der Anteil dessen, was ein anderer, größerer Autor seines Jahrhunderts die "Friktion" des Realen nannte: der Anteil der Umwege und Unfälle, des Mißlingens und des Scheiterns. Aber gerade das Kontingente, das Walters "Geheimes Leben" in reichem Maße transportiert, das Abseitige, das seine Erzählung so unbeabsichtigt mitnimmt wie ein Auto die Fliegen über der sommerlichen Landstraße, das ist es, was ihr gelegentlich einen Anflug von realistischer Anmut gibt, der in der pornographischen Literatur Seltenheitswert besitzt.
Gewiß ist "Walter", was man heute einen Phallokraten nennt, aber seine erste und dauerhafteste Lust ist die des Schauens; sie ist, um im Lackleder-Vokabular der dominanten Theorie zu bleiben, skopisch organisiert. Steven Marcus, der vor drei Jahrzehnten einen brillanten Essay über "My Secret Life" verfaßt hat, spricht von seiner "zentralen visuellen Obsession", was auch nur eine Variante derselben Sache ist, aber dieselbe Sache in ihren Varianten ist ja Gegenstand der dreitausend Seiten. "Walter" also will sehen, er will den Unterschied sehen, aber eigentlich will er, Steven Marcus zufolge, den Unterschied und dasselbe gleichzeitig sehen, er möchte im weiblichen Geschlechtsapparat den männlichen entdecken. Und diese Suche ("Was er sucht, ist ein Penis", heißt es bei Marcus), ist eine Suche nach etwas, das sich nirgends finden läßt. Ergo ist die Suche ohne Ende und ergo wissenschaftlich ein voller Erfolg. "Walter", der Komparatist des weiblichen Genitals, ist ein Ethnologe des Landesinnern, der lange vor den Argonauten des westlichen Pazifik den Margaret-Mead-Komplex erfindet: ein Pionier der empirischen Untersuchung, Befragung und Aufzeichnung, der viele Jahrzehnte vor Alfred Kinsey einen Fragebogen zur Erforschung des sexuellen Verhaltens entwickelte.
"Walter" verkörperte den Willen zum Wissen in seiner reinsten Form. Aber nicht in dieser Gestalt wurde er zum emblematischen Helden der Foucaultschen Geschichte der Sexualität. Das wurde er durch seine zweite oder dritte beherrschende Obsession - die des Schreibens. Die Schreiblust (oder der Schreibzwang), die den Autor singularisierte, war es auch, die ihn zum Repräsentanten einer anderen, allgemeineren Kultur und Geschichte machte. "Statt in diesem ungewöhnlichen Mann den mutigen Ausbrecher aus dem Schweigen des ,Viktorianismus' zu sehen", schrieb Foucault, "würde ich davon ausgehen, daß er . . . der direkteste und in gewisser Weise naivste Vertreter einer jahrhundertealten Einschärfung war, vom Sex zu sprechen." Damit wiederholte Foucault nur eine Einsicht, die Jahre vor ihm Steven Marcus formuliert hatte: daß für "Walter" das Schreiben schließlich ebenso wichtig geworden war wie die beschriebene Tätigkeit und daß die niedergeschriebenen Phantasien anfeuernd auf die Realität zurückwirkten. Letzten Endes aber spielt es keine Rolle, wer hier wen wiederholte - denn die Wiederholung ist auch der geheime und wahre Gegenstand des "Geheimen Lebens".
Wieder und wieder ist von "Walter" gesagt worden, dieser Don Juan (der zugleich ein Don Quijote war) des Viktorianismus sei seiner Zeit voraus gewesen - ein Vorläufer Freuds, ein Geistesbruder Leopold Blooms. Aber vielleicht ist er nirgends so sehr ein zu früh gekommener, verlorener Sohn des zwanzigsten Jahrhunderts wie in der seltsamen Motorik, die sein Werk (in der Doppelbedeutung von Treiben und Schreiben) durchzieht. In der Hitze seines Begehrens und im Furor seiner Ausschweifung noch ein Zögling der grausamen und exzessiven Libertins des achtzehnten Jahrhunderts, ist er in der monotonen Repetition seiner Aktivitäten bereits ein Insasse des stählernen Gehäuses einer künftigen Zeit, Don Juan so fern, wie er Henry Ford nahe ist. Und mit der Serialität der libidinösen Ökonomie des zwanzigsten Jahrhunderts bedroht ihn auch deren depressiver Charakter: "Walter", dieser nom de guerre eines Erotomanen aus dem neunzehnten Jahrhundert, könnte auch als Chiffre stehen für die Melancholie einer Wiederholung, die den Unterschied nicht hervorbringt, sondern ihn sukzessive verbraucht. Der Kopf, schrieb Gilles Deleuze, sei das Organ der Tauschakte, das Herz aber das in die Wiederholung verliebte Organ. Die Kehrseite von "Walters" erstaunlichem Glück in den Tauschakten war das Unglück einer Wiederholung ohne Herz.
"Walter": "Mein geheimes Leben". Ein erotisches Tagebuch aus dem Viktorianischen England. Mit einem Vorwort von Nadine Strossen und einem Nachwort von Michel Foucault. Aus dem Englischen übersetzt von Gunter Blank, Almuth Carstens, Martin Richter und anderen. Haffmans Verlag, Zürich 1997. 3 Bände in Kassette, zus. 3008 S., geb., zus. 99,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einigermaßen gesichert ist allein das Monument, das er seiner lebenslangen Hauptbeschäftigung setzte, der Text seiner sexuellen Abenteuer: In seinen frühen Zwanzigern begann "Walter" Tagebuch zu führen über die grandeurs et misères eines Trieblebens, das stärker war als Erziehung, Wille und Verstand des Autors und das er selbst zuweilen als dämonische Macht schilderte. Das Tagebuch, mehrmals unterbrochen, immer wieder aufgenommen, mündete in den Text der Memoiren, die der reife "Walter" um 1890 in sehr kleiner Auflage - angeblich bloß zum eigenen Gebrauch und Vergnügen - in Amsterdam drucken ließ. Von diesem Tag an war "My Secret Life" ein öffentliches Geheimnis - eine ominöse und skandalöse Frucht, die über Jahrzehnte hinweg Kenner und Verleger anzog und zum ökonomischen und libidinösen Parasitentum einlud.
Als vor nunmehr zwanzig Jahren Michel Foucault den ersten Band seiner Geschichte von Sexualität und Wahrheit veröffentlichte, stützte er seine Attacke gegen die "Repressionshypothese" - wonach die Sexualität im christlichen Abendland unterdrückt und vom Diskurs ausgeschlossen worden sei - auch auf den anonymen englischen Libertin, der von der Idee besessen gewesen sei, "sein Leben, das er nahezu vollständig der sexuellen Aktivität widmete, durch die genaueste Erzählung jeder seiner Episoden zu verdoppeln". Eher als seine Königin, die der angeblich so lustfeindlichen Epoche den Namen gab, könne, so Foucault, "dieser identitätslose Engländer zur zentralen Figur einer Geschichte der modernen Sexualität werden" - einer Geschichte, deren Ziel und Zweck darin bestanden habe, zum Reden über den Sex anzureizen. "My Secret Life" als Symptom einer geheimen Geschichte? Für einen damaligen Leser Foucaults und Übersetzer seines Buches zunächst nur die Erinnerung an eine geheime Lektüre.
Eine verschwommene Erinnerung an die subtabulare Lektüre einer Obersekunda oder Unterprima gegen Ende der sechziger Jahre, blasse Reminiszenz an ein lila oder dunkelgrün eingebundenes Buch (Olympia Press?), das Werk eines anonymen Engländers (in deutscher Übersetzung), ein aufregendes Kompendium verbotener Lüste. War dessen Autor etwa derselbe "Walter" gewesen, war "My Secret Life" längst im Deutschen angenommen? Auf der Suche nach Gewißheit und mit dem Wunsch, Foucaults knappe Anmerkungen eventuell um den Hinweis auf eine deutsche Auswahl zu ergänzen, wandte sich der Übersetzer an einen bekannten Literatursoziologen seiner Universität, den leider kurz darauf verstorbenen Professor M. Von diesem gelehrten Mann ging das Gerücht, er besitze die größte Sammlung von Erotika landauf, landab. Nach nur zwei Tagen war seine Antwort da.
Er wisse, schrieb der Professor, daß er als großer Sammler von Pornographie gelte. Dem sei nicht so. Dann aber folgte, als Negation der Negation, die minutiöseste Angabe, wer jene erste deutsche Auswahl aus "Walter" besorgt und wo er, der Kenner und Sammler, seinerzeit den Band erworben hatte, nämlich auf dem Flohmarkt von Amsterdam. So fanden - dank dem Fußnotenfetischismus eines Übersetzers - in der deutschen Ausgabe von Foucaults "Sexualität und Wahrheit", Band 1: "Der Wille zum Wissen", die Doktores Phyllis und Eberhard Kronhausen ihren gebührenden Platz, während die Auswahl aus "Walter", die wiederum fünfzehn Jahre später in Enzensbergers "Anderer Bibliothek" erschien (schön übersetzt von Reinhard Kaiser), ihre Vorgängerin aus den sechziger Jahren mit keiner Silbe erwähnte - was offenbar das natürliche Schicksal eines Buches ist, dessen Gegenstände die Liebe, das Geld und die Wiederholung sind.
Doch all dies, die Auswahlbände von gestern und vorgestern, sind editorische Knabenstreiche im Vergleich zu dem, was der Haffmans Verlag im offenbar übermächtigen Verlangen nach Vollständigkeit jetzt dem Leser in den Schoß legt: den kompletten "Walter", alle elf Bände des englischen Originals in drei kompakten, dank Dünndruck gerade noch mit einer Hand zu haltenden Bänden, gefällig übersetzt und in rosa Pappmaché gekleidet (wiewohl sich Halbleder empfohlen hätte), von dezent schwarzseidenen Strapsen oder Lesebändchen durchzogen. Angesichts dieser umwerfenden Totalität gerät das Leseerlebnis in bedenkliche Nähe zu gewissen von Walter geschilderten Langzeitsitzungen, bei denen die Lust allmählich vom Schmerz abgelöst wird. Nicht, daß man die schöne mannhafte Anstrengung des Verlages nicht zu schätzen wüßte - aber wer über dreitausend Seiten und durch schätzungsweise elftausend Nummern hindurch einem Wüstling folgt, der sieht am Ende nur noch: Wüste. Und erinnert sich wehmütig der Auswahlbände von einst.
Zumal wenn diese sich, wie der Enzensbergersch-Kaisersche, bevorzugt aus den Anfängen des Werkes und damit aus der juvenilen Frühzeit des Großen Fututors bediente. Neben den bedeutenden sozial-und kulturhistorischen Vorzügen des "Walter", die seine Apologeten nicht müde werden zu rühmen, findet man hier, auf jenen Seiten, da der künftige Untugendheld beschreibt, wie er den Ausgang aus der sexuellen Unmündigkeit fand, ein hinreißend komisches Kapitel humaner Technikgeschichte: verlorene Blätter aus der Vorgeschichte der Luftpumpe, der Dampfmaschine oder der Wasserpistole. Das liest sich ganz Max-und-Moritz-haft erheiternd, zumal der Autor nie daran denkt, sich seiner magischen Vorstellungen gänzlich zu begeben, und an einigem physiologischen Humbug lebenslang festhält. Wie überhaupt der gute "Walter" sich inmitten des Wilhelm Busch'schen Personals, irgendwo zwischen Balduin Bählamm, dem Kandidaten Jobs und Fips dem Affen, gar nicht so übel ausgenommen hätte: Was hier mit beeindruckender Rasanz aus den sittlichen Fugen gerät, ist immer noch als biedermeierliche Welt zu erkennen.
Zurück zur Sache, die immer dieselbe Chose ist. Naturgemäß geht es auf diesen dreitausend Seiten immer nur um das eine, aber das eine hat viele Namen und viele Gesichter, Beine, Bäuche, Dingsbums und so weiter. Das Erzähltempo ist hoch, gelegentlich sehr hoch, und manchmal ist die Geschichte vorüber, kaum daß sie recht begonnen hat, aber solche narratio praecox bildet getreu gewisse Schwächen der hitzigen Natur des Autorsubjekts ab und läßt im übrigen den Hintergrund des Tagebuchs durchscheinen, in dem ein munter dahinplätschernder Lebens- und Liebesbach flüchtig skizzenhaft festgehalten ist. Trotz seines Tempos vermittelt dieser im Zeitraffer abgedrehte andere Bildungsroman des viktorianischen England Szenen, die sich in ihrer Drastik oder ihrem ganz modern anmutenden, spröden Realismus weit über das pornographische Geplapper vieler Seiten erheben, Figuren, die so erstaunlich oder anrührend gezeichnet sind, daß man sie nicht so bald vergißt.
"Walter" entstammt der besitzenden und begüterten Schicht, und er weiß seinen Klassenvorteil in reichen erotischen Gewinn zu übersetzen: Dutzende von Haus-, Küchen- und Kindermädchen, von Landweibern und Arbeiterfrauen werden zur leichten Beute seiner unverschämten Anmache und ihrer eigenen sozialen Inferiorität. Gewiß bringt der Unermüdliche vor allem in späteren Jahren auch Damen der besseren Gesellschaft zu Fall, kultivierte Bürgersfrauen und ehrbare frustrierte Gattinnen. Doch das Leitmotiv des "Geheimen Lebens", darin dem ganz und gar nicht geheimen Treiben seines Jahrhunderts verwandt, ist das Geld. Denn Geld, das allgemeine Äquivalent, ist die Macht, die alles gleichmacht und die unbegrenzte Verfügbarkeit der Ware Lust befördert. Mit einer Frau über Beischlaf reden, schreibt "Walter", bedeute, alle gesellschaftlichen Unterschiede auszulöschen, nur vergißt er dabei, daß, wenn er über Beischlaf redet, er meist zuvor schon über Geld geredet hat. Der wohlhabende Libertin muß freilich nur selten feilschen, und natürlich sind zu seiner Zeit die Kursschwankungen an der erotischen Börse noch gewaltig und kaum vorhersehbar: Fortuna ist noch eine launische Macht. Doch das Drama der Ökonomisierung der Sexualität hat längst begonnen. Daß "My Secret Life" davon nur in prosaischer und komischer Form erzählt, vermag darüber nicht zu täuschen.
Es bedürfte nicht der (den heutigen Leser schockierenden) unbefangenen Bekenntnisse von "Walters" gelegentlich aufflackernden Gelüsten nach Jungfrauen und Kindfrauen, die er sich mit beträchtlichen Summen Geldes und mit Hilfe raffinierter Kupplerinnen zu verschaffen weiß, auch nicht der Erzählungen so mancher Entgleisungen auf der Geisterbahn der Triebe, um sich von der Authentizität dieser seltsamen Memoiren zu überzeugen. "Walter" ist kein phantasierender und fabulierender Sexprotz, er ist nicht einmal ein Karl May des erotischen Abenteuers. Zu hoch ist in seinem Text der Anteil dessen, was ein anderer, größerer Autor seines Jahrhunderts die "Friktion" des Realen nannte: der Anteil der Umwege und Unfälle, des Mißlingens und des Scheiterns. Aber gerade das Kontingente, das Walters "Geheimes Leben" in reichem Maße transportiert, das Abseitige, das seine Erzählung so unbeabsichtigt mitnimmt wie ein Auto die Fliegen über der sommerlichen Landstraße, das ist es, was ihr gelegentlich einen Anflug von realistischer Anmut gibt, der in der pornographischen Literatur Seltenheitswert besitzt.
Gewiß ist "Walter", was man heute einen Phallokraten nennt, aber seine erste und dauerhafteste Lust ist die des Schauens; sie ist, um im Lackleder-Vokabular der dominanten Theorie zu bleiben, skopisch organisiert. Steven Marcus, der vor drei Jahrzehnten einen brillanten Essay über "My Secret Life" verfaßt hat, spricht von seiner "zentralen visuellen Obsession", was auch nur eine Variante derselben Sache ist, aber dieselbe Sache in ihren Varianten ist ja Gegenstand der dreitausend Seiten. "Walter" also will sehen, er will den Unterschied sehen, aber eigentlich will er, Steven Marcus zufolge, den Unterschied und dasselbe gleichzeitig sehen, er möchte im weiblichen Geschlechtsapparat den männlichen entdecken. Und diese Suche ("Was er sucht, ist ein Penis", heißt es bei Marcus), ist eine Suche nach etwas, das sich nirgends finden läßt. Ergo ist die Suche ohne Ende und ergo wissenschaftlich ein voller Erfolg. "Walter", der Komparatist des weiblichen Genitals, ist ein Ethnologe des Landesinnern, der lange vor den Argonauten des westlichen Pazifik den Margaret-Mead-Komplex erfindet: ein Pionier der empirischen Untersuchung, Befragung und Aufzeichnung, der viele Jahrzehnte vor Alfred Kinsey einen Fragebogen zur Erforschung des sexuellen Verhaltens entwickelte.
"Walter" verkörperte den Willen zum Wissen in seiner reinsten Form. Aber nicht in dieser Gestalt wurde er zum emblematischen Helden der Foucaultschen Geschichte der Sexualität. Das wurde er durch seine zweite oder dritte beherrschende Obsession - die des Schreibens. Die Schreiblust (oder der Schreibzwang), die den Autor singularisierte, war es auch, die ihn zum Repräsentanten einer anderen, allgemeineren Kultur und Geschichte machte. "Statt in diesem ungewöhnlichen Mann den mutigen Ausbrecher aus dem Schweigen des ,Viktorianismus' zu sehen", schrieb Foucault, "würde ich davon ausgehen, daß er . . . der direkteste und in gewisser Weise naivste Vertreter einer jahrhundertealten Einschärfung war, vom Sex zu sprechen." Damit wiederholte Foucault nur eine Einsicht, die Jahre vor ihm Steven Marcus formuliert hatte: daß für "Walter" das Schreiben schließlich ebenso wichtig geworden war wie die beschriebene Tätigkeit und daß die niedergeschriebenen Phantasien anfeuernd auf die Realität zurückwirkten. Letzten Endes aber spielt es keine Rolle, wer hier wen wiederholte - denn die Wiederholung ist auch der geheime und wahre Gegenstand des "Geheimen Lebens".
Wieder und wieder ist von "Walter" gesagt worden, dieser Don Juan (der zugleich ein Don Quijote war) des Viktorianismus sei seiner Zeit voraus gewesen - ein Vorläufer Freuds, ein Geistesbruder Leopold Blooms. Aber vielleicht ist er nirgends so sehr ein zu früh gekommener, verlorener Sohn des zwanzigsten Jahrhunderts wie in der seltsamen Motorik, die sein Werk (in der Doppelbedeutung von Treiben und Schreiben) durchzieht. In der Hitze seines Begehrens und im Furor seiner Ausschweifung noch ein Zögling der grausamen und exzessiven Libertins des achtzehnten Jahrhunderts, ist er in der monotonen Repetition seiner Aktivitäten bereits ein Insasse des stählernen Gehäuses einer künftigen Zeit, Don Juan so fern, wie er Henry Ford nahe ist. Und mit der Serialität der libidinösen Ökonomie des zwanzigsten Jahrhunderts bedroht ihn auch deren depressiver Charakter: "Walter", dieser nom de guerre eines Erotomanen aus dem neunzehnten Jahrhundert, könnte auch als Chiffre stehen für die Melancholie einer Wiederholung, die den Unterschied nicht hervorbringt, sondern ihn sukzessive verbraucht. Der Kopf, schrieb Gilles Deleuze, sei das Organ der Tauschakte, das Herz aber das in die Wiederholung verliebte Organ. Die Kehrseite von "Walters" erstaunlichem Glück in den Tauschakten war das Unglück einer Wiederholung ohne Herz.
"Walter": "Mein geheimes Leben". Ein erotisches Tagebuch aus dem Viktorianischen England. Mit einem Vorwort von Nadine Strossen und einem Nachwort von Michel Foucault. Aus dem Englischen übersetzt von Gunter Blank, Almuth Carstens, Martin Richter und anderen. Haffmans Verlag, Zürich 1997. 3 Bände in Kassette, zus. 3008 S., geb., zus. 99,- DM.
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