Der Deutsche in Wien hat die fünfzig überschritten und ist in letzter Minute auf der Zielgeraden zur ersehnten Philosophieprofessur. Wir sehen ihn am Familientisch in einer vornehmen Wiener Vorortvilla sitzen. Versammelt sind der Schwiegervater, emeritierter Medizinprofessor und Patriarch der Familie, dessen fragile Gattin Gertrude mit dem straffen Haarknoten und beider Sohn Karl, ein höchst erfolgreicher Arzt, außerdem Van der Waidens Frau Lisa und sein Sohn Moritz. Sophie, die ältere Tochter fehlt. Als sie endlich erscheint, sorgt sie mit ihren frisch operierten Brüsten zunächst für einen kleinen Skandal.
Es ist ausgerechnet Sophie, die auf der weißen Tapete den Fleck wiederentdeckt, den Gertrude dort Jahre zuvor verursacht hat, als sie nach einer spitzen Bemerkung ihres Mannes eine Terrine voller Rindssuppe an die Wand kippte. Inzwischen verblasst, erinnert der Suppenfleck nicht nur an den Verlust von Gertruds Contenance, er symbolisiert auch das Verdrängte und Totgeschwiegene dieser Familie und deutet zudem auf kommendes Unheil.
Dietmar Krug, 1963 im Rheinland geboren und heute als Journalist und Autor in Wien lebend, wurde mit einer Arbeit über Thomas Mann promoviert. Seinen bitterfeinen Figurenzeichnungen ist das positiv anzumerken. Krugs Romanpersonal scheitert eindrucksvoll im Versuch zu verdrängen, was, verdichtet im Suppenfleck, ein zentrales Thema dieses klugen Debüts ist: die Angst des aufgeklärten Bürgers vor dem Chaos der Triebe und Gefühle, das den Lebensplan stören könnte. Dieses Chaos lauert überall und sucht mit Heftigkeit auch Van der Waiden und seine Familie heim, auf der ein starker Druck lastet: Alle erwarten endlich Klarheit über Van der Waidens berufliche Lage.
Lisa sehnt sich nach seinem und nach dem eigenen beruflichen Erfolg. Die Kinder bleiben oft außen vor. Umso plausibler, wenn Sophie sich die Brüste aufpolstern lässt, um als Backgroundsängerin groß herauszukommen, und Drogen nimmt, wenn Lisa vorm Spiegel ihre weiße Hose wieder und wieder daraufhin inspiziert, ob sich nicht doch der String darunter abzeichnet, wenn Moritz am Computer in die Welt von "Star Trek" abdriftet. Es ist eine reichlich neurotische, im angestrengten Wahren des Scheins dem Auseinanderbrechen stets nahe Familie, die in ihrer Abgründigkeit dennoch sympathisch und normal ist, in der alle Mitglieder vereint sind im unausgesprochenen Wunsch, der diesem Roman den Titel gibt: dem Wunsch nach mehr Freiheit.
Doch das Unheil braut sich immer dichter zusammen. Van der Waidens Mutter in Deutschland erkrankt an Demenz, während ihr Sohn in Wien den für seine Karriere entscheidenden wissenschaftlichen Kongress organisieren soll. Van der Waiden ist den Anforderungen kaum gewachsen. Im Rückblick muss er zugeben, meist mehr Glück als Verstand gehabt, mehr Opportunismus als Geist an den Tag gelegt zu haben. Im Alltag jongliert er weiter mit den Mechanismen des Wissenschaftsbetriebs und den zweifelhaften Händeln, auf denen seine Existenz beruht. Doch der bürgerliche Jedermann wird nicht aktiv, er übt sich allenfalls in Schadensbegrenzung, und im Gegensatz zum Suppenfleck auf der Tapete bleiben die Folgen der Ängste und Albträume, Kränkungen und Konflikte lange unsichtbar.
Als der Kongress schließlich stattfindet, lässt Krug bei einem Auftritt des "Schamanen" und des "Predigers" noch einmal die Auseinandersetzung zwischen Peter Sloterdijk und Jürgen Habermas aus dem Jahr 1999 aufleben, die - von Sloterdijks "Regeln für den Menschenpark" angefacht - eine Debatte über die Anwendung der Biotechnologie auf den Menschen auslöste. Indem an diese Auseinandersetzung erinnert wird, gewinnt dieses vielversprechende gesellschaftsdiagnostische Debüt eine zusätzliche Deutungsebene, die indirekt auf das offene, überraschende Ende verweist, an dem Van der Waiden schließlich drastisch und komisch mit seinem ureigenen Verdrängten konfrontiert wird. So kommt ans Licht, was allzu lange unter der Oberfläche brodelte.
BEATE TRÖGER
Dietmar Krug: "Mehr Freiheit". Roman.
Otto Müller Verlag, Salzburg 2013. 320 S., geb., 22,- [Euro].
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