Stürmern und Drängern die junge Mutter selbst zur Verbrecherin, die sich "aus Angst vor Schande und Ächtung" der wehrlosen "Zeugen ihres Begehrens" entledigt, kurzum: Sie wird eine Kindsmörderin nach dem mythischen Vorbild Medeas.
Luserkes Medea-Studie nimmt einen von der Literaturgeschichte schon mehrfach reflektierten Befund zum Ausgangspunkt, die Häufung von Fällen mütterlicher Kindestötung in der Dramatik des Sturm und Drang. Eine veritable "Diskursexplosion über den Kindsmord" ist nach Luserkes Recherchen auch im medizinischen, juristischen und anthropologischen Schrifttum der siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts zu verzeichnen. Doch während sozialgeschichtliche Erklärungen dies auf einen realhistorischen Anstieg einschlägiger Delikte zurückführten, sieht Luserke hier umgekehrt einen durch die Literatur ausgelösten Thematisierungsschub.
Es waren Bühnenwerke wie die 1776 erschienene "Kindermörderin" von Goethes Dichterkollegen Heinrich Leopold Wagner, mit denen die mütterliche Delinquentin zum Gegenstand öffentlicher Debatten wurde. Ein Jahr zuvor hatte Friedrich Wilhelm Gotter das Libretto zu der Oper "Medea" verfaßt; ein in Mannheim, Weimar und jahrzehntelang dann in Wien mit großem Erfolg gegebenes Ausstattungsspektakel, bei dem Medea eifersüchtig den prächtigen Hochzeitszug von Jason und Kreusa durch das philisterhafte Korinth mit ansehen muß.
Wagners "Kindermörderin" ist angeregt durch einen Fall, der in der späteren Version des "Faust" weit größere Bekanntheit erlangen sollte; rückblickend klagt Goethe denn auch, der in seine Pläne eingeweihte Freund Wagner habe ihm den Stoff kurzerhand abgekupfert. Die Frankfurter Gastwirtsgehilfin Susanna Margaretha Brandt hatte im Sommer 1771 nach verheimlichter Schwangerschaft ihr Neugeborenes getötet. Auf dieses Verbrechen stand, auch noch am Weimarer Musenhof übrigens, die Todesstrafe. Die peinlich Befragte gab zu Protokoll, sie sei durch einen teuflischen Verführer angestiftet worden, womit vorehelicher Sex und Kindsmord gleichsam zu einem Delikt verschmolzen. Aber macht sie das bereits, wie Luserke folgert, "zu einer Medea"?
Mit dem arglosen Gretchen jedenfalls hat Wagners "Evchen Humbrecht" nur wenig gemein. Der Stürmer und Dränger geizt nicht mit sexueller Drastik, er siedelt die Handlung im Bordellmilieu an und schildert eine flagrante Vergewaltigungsszene. Sozialkritisch wird der Kindsmord mit der übermächtigen Autorität des pater familias in Verbindung gebracht. Luserke wertet dies als Symptom für die "Angst" der Jungdichter, "von der Vatergewalt der Aufklärung ausgelöscht zu werden". In dieser literaturgeschichtlichen Konfliktlinie sieht der Germanist eine mögliche Ursache für den - freilich nur ihm selbst verwunderlichen - Umstand, daß außer Friedrich Maximilian Klinger ("Medea in Korinth", "Medea auf dem Kaukasos") keiner der Stürmer und Dränger auf die mythische Medea-Figur zurückgegriffen habe.
Die unklaren Wechselwirkungen zwischen Realgeschichte und Fiktion machen das Auftreten der Kindsmörderin für Luserke zum Testfall einer "Kulturgeschichte der Literatur", wie sie der programmatische Untertitel in Aussicht stellt. Als deren methodischen Anspruch wird das Ziel formuliert, "die Fiktionalität geschichtlicher Quellentexte genauso zu begreifen wie die Dokumentarität fiktionaler Texte". Das klingt zwar ein wenig ungelenk, aber keineswegs sensationell. Die Rehabilitierung des kulturhistorischen Quellenwerts literarischer Texte ist seit dem "New Historicism" Stephen Greenblatts ebenso zum Gemeinplatz geworden wie zuvor die durch Hayden White betonten rhetorisch-poetischen Elemente der Geschichtsschreibung. Offene Türen rennt auch Luserkes wiederholt geäußerter Vorbehalt ein, aus den Quellen über zeitgenössische Kindsmord-Verfahren ließen sich kaum gesicherte Erkenntnisse über deren tatsächliche Häufigkeit gewinnen.
Ein gravierender Einwand betrifft die Grundkonstruktion des Unternehmens, nämlich die unhinterfragte Gleichsetzung der Kindsmörderin mit der mythischen Medea-Gestalt. Zwar deklariert der Autor, er meine mit dem Medea-Thema "den Kindsmord, der von Müttern an Neugeborenen verübt wird", stellt dann aber fest, daß Medeas Kinder, etwa in der Version Grillparzers und auch bei Elfriede Jelinek, "schon halbwüchsig" sind. Des weiteren räumt Luserke ein, daß Medea "dem Bild von der ledigen Dienstmagd als der klassischen Kindsmörderin drastisch widerspricht". Das ist noch untertrieben: Es handelt sich schlichtweg um zwei disparate Motivtraditionen und Handlungsmodelle.
Die Problematik der verzweifelten, zur Kindestötung getriebenen jungen Mütter ist, das belegen die im Anhang des Bandes wiedergegebenen Dokumente, ein historisches und gesellschaftliches Konkretum, eingrenzbar und erklärbar - der Mythos der kindermordenden Medea hingegen ist dies nicht. Die Kindestötungen des Sturm und Drang resultieren aus einer Notlage schwangerer Frauen, für deren Konsequenzen die Dramatiker nachträgliche Plausibilität oder zumindest Evidenz schaffen können. In der Nachfolge Lessings zielt ihr wirkungsästhetisches Programm auf Empathie und soziale Prophylaxe.
Medea hingegen ist ein fortwährendes Skandalon und Rätsel, dessen Ursprünge sich im Gewirr der Überlieferungsstränge verlieren. Euripides führte, möglicherweise durch die Korinther bestochen, in den Medea-Stoff das Motiv der Kindestötung ein. Bei Seneca erscheint sie als Zauberin und Hexe. Boccaccio prangert Medeas Schamlosigkeit an, als Musterbild einer unzüchtigen Weibsperson schürt sie die "Angst vor der handlungsautonomen, sexuell aktiven Frau". Medea vergeht sich nicht heimlich an ihrer Leibesfrucht, sie wirft die Mutterrolle spektakulär über Bord. Auch sind ihre Opfer keine hilflosen Neugeborenen, in den Argonauten-Dramen Grillparzers werden sie sogar mit Namen und Stimme versehen.
Das Schema "Kindestod durch die eigene Mutter" blendet zahlreiche, wenn nicht entscheidende Züge Medeas aus: ihre prekäre Stellung im dynastischen Konflikt, den Verrat des Ehemanns Jason, vor allem aber ihre kulturelle und ethnische Fremdheit. Hans Henny Jahnn ließ seine Medea als Schwarzafrikanerin agieren, in Christa Wolfs "Medea. Stimmen" von 1996 verkörpert sie den Konflikt zwischen dem östlichen Kolchis und dem westlichen Korinth. Medea ist die Frau aus der Ferne, irritierend, unverstanden, bedrohlich; nichts davon haben die Evchens und Gretchens mit ihrem verhinderten Familienglück.
Gerade von jüngeren Adaptionen ist das überschießende Potential des Medea-Mythos neuerlich demonstriert worden, in Andreas Staudingers "Medea Good Girl" (1997) und Dea Lohers "Manhatten Medea" (1999). Auch hier wird Medea nicht zur psychologisch transparenten Figur, sondern erfährt, wie Staudinger seine Versuche nennt, grelle "Übermalungen". Im Blick des Literarhistorikers aber, der zu Medeas Widersachern in Korinth die delikate Assoziation der "Korinthenkacker" parat hat, bleibt jene Kindsmörderin, die sich dem paragraphenförmigen Delikt entzieht, als ästhetisches Phänomen reichlich blaß.
ALEXANDER HONOLD
Matthias Luserke-Jaqui: "Medea". Studien zur Kulturgeschichte der Literatur. A. Francke Verlag, Tübingen und Basel 2002. 350 S., geb., 49,- [Euro].
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