künstlerischen Strömungen am Anfang des 20. Jahrhunderts so deutlich wie bei ihm. Dabei schließen sich dadaistische und surrealistische Methoden nicht aus. Auch in seinen späteren autobiographischen Texten wendet Max Ernst die dadaistische Form der Übertreibung an, wenn er von der "köstlichen Unordnung im Gehirnkasten des Heranwachsenden" spricht und damit seine Zeit zwischen 1909 und 1914 meint. Max Ernst hat einen Mutterwitz, der unabhängig ist von den Strömungen der Moderne. In einem Text von 1913, erschienen in einer Bonner Zeitung, schreibt er: "Das beste Bild im Obernier-Museum war bis vor etwa einem Jahr die Aussicht von der oberen Glasveranda auf das andere Rheinufer und das Siebengebirge."
Sein literarischer Ehrgeiz, der in dem umfangreichen Sammelband "Die Schriften" deutlich wird, herausgegeben von Gabriele Wix, steht in Verbindung mit seinem Werk als bildender Künstler. In dem Beitrag "Jenseits von Malerei" kommt er auf die Technik der Frottage zu sprechen, die ihm 1925 bewusst geworden ist beim Anblick der Maserung eines Holzfußbodens. Die mit einer Bleimine auf das weiße Papier durchgeriebenen Strukturen regten seine Phantasie an; er stellte sich menschliche Köpfe vor, Tiere, auch Felsgestein. In dem Text "Die Nacktheit der Frau ist weiser als die Lehre des Philosophen" beschreibt Max Ernst den "Tageslauf eines Malers" mit folgenden Worten: "Als erstes bohrt er am Morgen ein Loch in die himmlische Rinde, die zum Nichts führt. Dann köpft er eine Tanne und verfehlt seine Laufbahn. Er inspiziert sein Steckenpferd. Er kriecht unter die Erdrinde und ist guter Laune. Er malt ein Schlüsselloch auf die Wand und entdeckt durch das Schlüsselloch die schwachen Lichtflammen. Er läßt schwache Lichtfedern fliegen." Die surrealistische Welt besteht aus Tatsachen der Erfahrung, die erweitert werden in den Bereich der Illusion. Die einfachen Sätze, die gereihten Aussagen erwecken den Eindruck, als handele es sich um eine uns bekannte Realität. Die Poesie entsteht mit der Verwendung von Ausdrücken wie "himmlische Rinde" oder "Lichtfedern". Max Ernst nimmt Redewendungen wörtlich, das "Steckenpferd" wird zu einem sinnlichen Gegenstand. Die Arbeit mit der Sprache als Material ähnelt der Tätigkeit des bildenden Künstlers, die visuellen und die dichterischen Arbeiten sind unabhängig voneinander. Die Phantasie des Malers entspricht dem Erfindungsreichtum des Schriftstellers. Vergleichbar ist Max Ernst mit Dieter Roth, der in seinen literarischen Selbstbeschreibungen mit den Mitteln des Spotts und der Persiflage arbeitet. Der Band "Die Schriften" zeigt Max Ernst vor allem auch als Künstler der Kooperationen. Die Zeit des Dadaismus in Köln mit Johannes Theodor Baargeld und Hans Arp wird von ihm thematisiert. 1922 erfolgt der Umzug nach Paris, wo er Kontakt hat zur Gruppe der Surrealisten mit Schriftstellern wie Paul Éluard oder André Breton. Auch die Liebesbeziehungen zu den Künstlerfrauen Leonora Carrington und Dorothea Tanning finden Erwähnung. Max Ernst wirkt mit seinen literarischen Texten wie ein Vorläufer der Wiener Gruppe: Die surrealistischen Impulse von H. C. Artmann und Konrad Bayer, der Sarkasmus, die Ironie und der Kalauer in der Dichtung von Gerhard Rühm könnten auf ihn zurückgeführt werden.
Zu unterscheiden ist jedoch zwischen den literarischen Fähigkeiten von Max Ernst und seinem Selbstverständnis als Schriftsteller. Er hat vor allem dort seine literarischen Texte publiziert, wo sich ein Zusammenhang ergab mit Arbeiten der bildenden Kunst. Seinen Ruhm als Künstler hat er genutzt, um sich literarisch zu profilieren. Anders als Henri Michaux, der sowohl im Literatur- als auch im Kunstbetrieb präsent war, hat Max Ernst sich eher als bildender Künstler mit literarischen Ambitionen gesehen. In dem Text "Lebensdaten" heißt es: "Schwierigkeiten begannen in Vaterhaus, Schule und Gymnasium, als sich im Hirn des Knaben der Glaube einwurzelte, er sei in die Welt gekommen, um zu malen."
Problematisch ist die Edition von Gabriele Wix, weil das Buch eine Bleiwüste ist und auf Abbildungen fast verzichtet wird. Bei den drei Collageromanen "La femme 100 têtes", "Traum eines kleinen Mädchens, das in den Karmel eintreten wollte" und "Une semaine de bonté. Die weiße Woche. Ein Bilderbuch von Güte, Liebe und Menschlichkeit" sind die Bildunterschriften ohne die visuellen Arbeiten veröffentlicht worden. Aus den bibliographischen Angaben am Ende des Bandes geht nicht hervor, ob es sich dabei um eine Idee der Herausgeberin handelt oder eine frühere Veröffentlichung zugrunde liegt. Bei dem noch zu Lebzeiten von Max Ernst auf Französisch publizierten Sammelband mit Schriften von ihm ("Écritures" von 1970) sind bei den Collageromanen einige Abbildungen erhalten geblieben, die den Charakter, die Atmosphäre der ursprünglichen Publikation wiedergeben. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich an der Ästhetik dieser Zusammenstellung zu orientieren, die mit 120 Illustrationen wie ein Text-Bild-Buch von Alexander Kluge wirkt. Durch die Verwendung von Abbildungen hätten sich auch sanftere Übergänge ergeben zwischen den unterschiedlichen Gattungen wie Gedicht, Erzählprosa, Manifest, Notiz, Katalogbeitrag, Übersetzung oder Rede. THOMAS COMBRINK
Max Ernst: "Die Schriften".
Hrsg. von Gabriele Wix. Nachwort von Marcel Beyer. Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln 2022. 636 S., geb., 48,- Euro.
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