schuhlosen Schuster oder brotlosen Bäcker. Eigentlich möchte man solche Figuren nicht in einer Biographie, sondern allenfalls in einer Farce Ionescos näher kennenlernen.
Es ist auch die Frage, ob die Figur vom "gottlosen Priester" als Heidegger-Double taugt. Klar ist allerdings, was zur Urszene erklärt werden muss, wenn man es darauf anlegt: Es ist ein Brief des knapp dreißigjährigen Heidegger an Engelbert Krebs aus dem Jahre 1919, in dem es heißt, ihm sei "das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar gemacht" worden - "nicht aber das Christentum und die Metaphysik (diese allerdings in einem neuen Sinne)". Dieser Brief stellt natürlich nur einen Zwischenschritt in einer längeren Entwicklung dar: Ihm geht voraus, dass Heidegger aus der Priesterlaufbahn ausgeschieden ist; in der Folgezeit wird er sich dann freilich nicht irgendeinem unorthodoxen "Christentum" zuwenden, sondern nur gelegentlich dem Gott oder, lieber noch, den Göttern auf der Bühne seines Denkens, im "Spiegel-Spiel der weltenden Welt" einen Auftritt gewähren. Nach Fischer steht hinter dieser Denkbühne aber weiterhin ein verkrachter "Priester", dem Sinn und Zweck seines Selbstverständnisses abhandengekommen sind und der mit seiner Herkunft hadert.
Diese Deutung liegt übrigens quer zu Rüdiger Safranskis Lesart, der Heidegger dafür gelobt hat, "wie kein anderer in einer nichtreligiösen Zeit den Horizont für religiöse Erfahrung offengehalten" zu haben. Über Bande wird hier die Frage hin- und hergespielt, wie es die moderne Gesellschaft mit der Religion hält. Lockt eine neue Frömmigkeit? Lastet die alte Tradition? Oder kann man diese doch wiederbeleben und die New-Age-Propheten ausbooten?
Man soll ein Buch nicht nur anhand seines Titels beurteilen. Halten wir uns also an Fischers eigenen Kommentar zu dem Brief an Krebs. Er schreibt: "Wenn Heidegger nun Abschied vom System des Katholizismus nimmt, ist er im wesentlichen der Mensch geworden, den er für den Rest seines Lebens auch bleiben wird: voller Ressentiment, unterwürfig und ehrgeizig, aber auch hochmütig, überheblich und ausbeuterisch: ein Mensch, der sich nie entspannt zurücklehnen kann, auch wenn er gerade noch so große Erfolge feiert." Hier wird nun deutlich, worin sich dieses Buch grundlegend von seinen zahlreichen Regalnachbarn unterscheidet: Fischer legt den Philosophen auf die Couch, und er tut dies mit dem Selbstbewusstsein eines praktizierenden Psychoanalytikers. Sein Buch hat über weite Strecken die Züge einer Anamnese: Die Geistesgeschichte wird zur Krankengeschichte, der gottlose Priester ächzt unter der Last eines frühen Verhängnisses.
Dass Heidegger mit der katholischen Kirche auf keinen grünen Zweig kommt, hat nach Fischer eine "ungeheure narzisstische Kränkung" ausgelöst; das Leben und Denken des Philosophen besteht dann fast nur aus deren Nachwirkungen, die in diesem Buch abgetastet werden wie die Perlenschnur eines Rosenkranzes (oder besser: Neurosenkranzes). Es etabliert sich, so meint Fischer, ein "paranoides System, das sich selbst endlos fortzeugt". Den "Schuldgefühlen" gegenüber der Mutter, der er den Wunsch der Priesterkarriere nicht erfüllen kann, folgen "Vernichtungsphantasien", in denen Heidegger sich als Opfer fühlt und die er zugleich selbst auslebt; der "Rivalitätszwang" erlaubt ihm, philosophische Autoritäten vom Sockel zu stoßen; als "romantischer Rebell" holt er in den zwanziger Jahren eine "adoleszente Rebellion" nach; der "Egoismus" erlaubt ihm die erotische Ausbeutung Hannah Arendts; "enthemmte Aggression" und "fehlendes Mitgefühl" ebnen den Weg zu den "Allmachtsphantasien" um 1933. Darauf folgt nach Fischer die "Ruhe nach dem Sturm": Heidegger zieht sich aus der realen Welt, an der er sich mit Opfer- und Ohnmachtsgefühlen abarbeitet, in ein sprachliches "Privatuniversum" zurück, zu dem auch so etwas wie ein Ersatzgott dazugehört. Gedeutet wird diese Welten-Doppelung von Fischer als "psychotisches Phänomen", das Züge von "Schizophrenie" aufweist.
Man könnte sagen, seine Darstellung wechsle hin und her zwischen Erdgeschoss und Keller, also zwischen eher traditionellen Referaten zu den Hauptstationen der philosophischen Entwicklung Heideggers und Interpretationen zur psychologischen Dynamik. Beide Ebenen werden eng verzahnt. Ein Beispiel: "Heidegger (. . .) ist überhaupt nicht fähig, Menschen als die wahrzunehmen, die sie an sich sind, losgelöst und unabhängig von ihm, sondern erlebt sie nur als narzisstische Verlängerung seines eigenen Selbst. Das widerspiegelt sich ganz direkt in seiner Vorstellung des Mitseins als eines Existenzials des jeseinigen Daseins." Eine eigentümliche Version der Widerspiegelungstheorie tritt hier aus der Versenkung.
Fischers Buch hat kuriose, unangenehme, symptomatische und auch anrührende Seiten. Kurios ist, wie dieses Buch die Frühzeit der psychoanalytischen Literaturinterpretation wieder aufleben lässt, in der eine Zigarre auch nie nur eine Zigarre sein durfte. Unangenehmerweise kehrt dabei der Größenwahn, den Fischer Heidegger zuschreibt, in seiner eigenen Haltung wieder: Er tut so, als habe er den Philosophen durchschaut, als sei er nicht nur in dessen Berghütte, sondern auch in dessen geistigem Hinterstübchen ein- und ausgegangen; man merkt auch, wie es Fischer in den Fingern juckt, Heidegger die "narzisstische Bedürftigkeit" wegzutherapieren, ohne die er - wie es heißt - "vielleicht tatsächlich zu einem der ganz Großen" geworden wäre. Symptomatisch ist dieses Buch für die (gegenwärtige oder schon gestrige?) Tendenz, Sachen hinter Personen verschwinden zu lassen: Politik hinter Homestories, Produkte hinter Lebensstilen, Bücher hinter Autoren - und nun auch die Philosophie hinter dem Psychogramm. Anrührend ist Anton Fischers Buch immerhin an den Stellen, wo er beschreibt, wie Heidegger manches scharf gesehen, aber oft im letzten Moment verdreht und verzerrt hat, oder auch dort, wo für ein Denken mit menschlichem Maß plädiert wird - inklusive der "blinden Flecken" oder der "Beschränkung und Einschränkung", von denen auch Martin Heidegger, seinem Bruder Fritz zufolge, nicht frei war.
DIETER THOMÄ
Anton M. Fischer: "Martin Heidegger - Der gottlose Priester". Psychogramm eines Denkers. Rüffer & Rub, Zürich 2008. 840 S., Abb., geb., 35,50 [Euro].
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