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Stories über Sex, Krieg, Krankheit, Wissenschaft und Musik, stilistisch brillant, bewegend und originell: Mit diesen Kurzgeschichten beweist Yann Martel, Gewinner des Booker Prize und Autor von 'Life of Pi', erneut sein überragendes literarisches Talent.
Yann Martel wurde 1963 in Spanien geboren. Seine Eltern sind Diplomaten. Er wuchs in Costa Rica, Frankreich, Mexiko, Alaska und Kanada auf und lebte später im Iran, in der Türkei und in Indien. Er war nominiert für den Governor General Award und den Commonwealth Writers Prize und gewann den Booker Prize 2002. Yann Martel lebt mit seiner Familie in Saskatchewan.
Produktdetails
- Verlag: Canongate Books
- Seitenzahl: 239
- Englisch
- Abmessung: 195mm
- Gewicht: 330g
- ISBN-13: 9781841955360
- ISBN-10: 1841955361
- Artikelnr.: 12911897
Herstellerkennzeichnung
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Die Pranke des Tigers
Schicksalsmusik: Frühe Erzählungen von Yann Martel
Als Günter Grass sein zwanzigstes Jahrhundert in hundert Episoden durcharbeitete, bezog er jeden Jahresring auf sich und die deutsche Katastrophengeschichte. Yann Martels Horizont ist größer, sein Ehrgeiz kleiner. Wenn der in Spanien geborene Frankokanadier in "Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios" seine Jahrhundertgeschichten erfindet, geht es ihm nicht um einen synoptischen Rückblick im Zorn, sondern um einen Akt der Liebe, nicht um die Rettung der Welt, sondern um die des sterbenden Freundes. Die Machart ist ähnlich: Der Tod von Queen Victoria steht für das Jahr 1901, die Relativitätstheorie für 1905, die Erfindung des
Schicksalsmusik: Frühe Erzählungen von Yann Martel
Als Günter Grass sein zwanzigstes Jahrhundert in hundert Episoden durcharbeitete, bezog er jeden Jahresring auf sich und die deutsche Katastrophengeschichte. Yann Martels Horizont ist größer, sein Ehrgeiz kleiner. Wenn der in Spanien geborene Frankokanadier in "Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios" seine Jahrhundertgeschichten erfindet, geht es ihm nicht um einen synoptischen Rückblick im Zorn, sondern um einen Akt der Liebe, nicht um die Rettung der Welt, sondern um die des sterbenden Freundes. Die Machart ist ähnlich: Der Tod von Queen Victoria steht für das Jahr 1901, die Relativitätstheorie für 1905, die Erfindung des
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Reißverschlusses für 1913. Aber Martels Intention und Perspektive ist eine ganz andere: Seine historischen Episoden sollen eine Familiensaga rahmen. Daß wir von den finnischen Roccamatios wenig erfahren, daß die Geschichten "Typisches" über das Jahrhundert verraten und 1963 jäh abbrechen, hängt mit der Erzählkonstellation zusammen.
Das Geschichtenerfinden ist ein Spiel zwischen dem Autor und seinem todkranken Freund Paul, und je näher die Hintergründe des Roccamatio-Romans an die Gegenwart heranrücken, desto mehr drängt sich Pauls Leiden und Sterben in den Vordergrund. Er wählt seine Geschichten nach seinem Gesundheitszustand aus: Jeder Rückschlag, jeder Hoffnungsschimmer spiegelt sich unmittelbar in seiner privaten Weltgeschichte ab. Sein Koautor muß erst noch lernen, daß so unwägbare Dinge wie Mitleid, Zärtlichkeit, Erbarmen, Trotz und Trost wichtiger sind als historische "Wahrheiten". Schreiben ist eine Funktion des Lebens. Das zwanzigste Jahrhundert war voller Greuel und Gewalt, und das Decamerone der beiden Freunde kann sie weder verdrängen noch Pauls qualvollen Tod aufhalten. Aber im gemeinsamen Erzählen von Geschichten haben sie der Geschichte die Stirn geboten, mit ihrer ungerichteten Phantasie die ganze Welt umarmt und so doch noch so etwas wie "Sinn aus all diesem Unsinn" destilliert.
Für Yann Martel ist Erzählen praktizierter Humanismus, aufgeklärter Idealismus, denkbar weit entfernt von Pessimismus und Zynismus. Noch in der ausweglosesten Situation findet er einen Funken Hoffnung, der das Weiterleben lohnt. Sein "Schiffbruch mit Tiger" war eine Hymne auf skeptische Demut, Toleranz und kreatürliche Solidarität: Wenn ein mißtrauisch lauerndes Raubtier und ein schiffbrüchiger Waisenknabe auf einem Floß friedlich koexistieren können, ist das Paradies noch nicht verloren. Der Welterfolg des Romans ermutigte Martell jetzt, seinen 1994 noch sang- und klanglos untergegangenen Erzählband in einer überarbeiteten Fassung noch einmal aufzulegen.
Die vier Erzählungen sind sichtlich Jugendwerke. Martel hat zwar, wie er im Vorwort bekennt, Ungeschicklichkeiten ausgebügelt und den "Drang zum Überschwang" gezügelt, aber die Pranke des Tigers zeigt sich in diesen eigentümlichen Kreuzungen aus jugendfrischem Sturm und Drang, Orientierungssuche und konzeptualistischen Abstraktionen selten. Eben als Philosophiestudent zweimal durchgefallen und wieder bei den Eltern untergeschlüpft, war Martel damals "unschlüssig, was ich mit meinem Leben anfangen sollte": Er arbeitete als Tellerwäscher und Nachtwächter; seine ersten literarischen Versuche - Kurzgeschichten, absurde Theaterstücke, ein Roman - genügten nicht einmal seinen eigenen Ansprüchen. Aber das Erfinden fremder Welten war für ihn eine "private Universität", und im Gegensatz zu vielen seiner deutschen Kollegen schaute er schon immer lieber nach außen als nach innen. Eine Geschichte bedarf einer "guten Idee, die zugleich rührt": Sie muß bewegen, den Verstand ansprechen und unterhalten, und das ist Martell jedenfalls schon ganz gut gelungen.
"Tut mir leid, besser konnte ich es nicht", sagte Paul kurz vor seinem Tod. "Jetzt bist du dran." Martel hat den Stab aufgenommen und weitergetragen: Alle Geschichten handeln von Niederlagen, Verzweiflung und Tod; keine entläßt den Leser ungetröstet. In "Der Tag, an dem ich das ,Soldat-Donald-J.-Rankin-Streichkonzert mit einer dissonanten Violine' des amerikanischen Komponisten John Morton hörte", entdeckt er in den Ruinen eines aufgelassenen Theaters seinen Kulturtempel und in dem herzergreifend mißtönenden Konzert eines als Putzmann vegetierenden Vietnamveteranen seine Schicksalsmusik: "Jeder falsche Ton ließ die unerreichbare Vollkommenheit anklingen, jede Schwäche war eine Befreiung. Wie Punkrock, wie Jackson Pollock, wie Jack Kerouac war es durch und durch menschlich, eine Mischung aus perfekter Schönheit und befreiender Unvollkommenheit." In "1096 Arten zu sterben" schreibt ein Gefängnisdirektor neun Kondolenzbriefe an die Mutter eines Hingerichteten: Mal bestellte der Todeskandidat Kaviar, mal Pellkartoffeln als Henkersmahlzeit; mal ging er ernst und blaß, mal schreiend oder auch hysterisch lachend zum Galgen. Immer war er im Sterben allein; aber noch in nüchternen, formelhaften Sätzen des Direktors (und dem seriellen Erzählverfahren Martels) schimmert das Erstaunen darüber durch, wie ein Verworfener im Angesicht des Todes Individualität, Menschenwürde, Anspruch auf Respekt und Erbarmen zurückgewinnt.
In "Spiegel für die Ewigkeit" treibt Martel seine Lust an typographischen und literarischen Experimenten am weitesten: Während die Großmutter in einer Textspalte ihre Jugenderinnerungen ausbreitet, kommentiert in der anderen ihr Enkel die Suada mit gelangweilten, mürrischen Einwürfen. Zu spät bemerkt er, daß ihr endloses "Bla-bla", ihre Sammelwut und ihre kuriose "Spiegelmaschine" dem verzweifelten Versuch entsprangen, die Zeit an- und die Erinnerung festzuhalten. Die Geschichte ist die schwächste; sie hantiert mit aufdringlichen Symbolen und überflüssigen Erläuterungen. Aber sie enthält auch Martels ganze Poetik: Wo für Stendhal der Roman ein Spiegel auf der Landstraße war, ist das Erzählen für ihn ein magischer Apparat aus dem Trödelladen, der menschliche Erinnerungen auf oxydierten, an den Rändern schon blinden Spiegeln fixiert und so vor der Korrosion durch Vergessen schützt: "Neue Spiegel sind uninteressant. Sie sind Industrieprodukte, glatt und makellos klar. In ihnen gibt es nichts zu lesen."
MARTIN HALTER
Yann Martel: "Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios". Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 191 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Geschichtenerfinden ist ein Spiel zwischen dem Autor und seinem todkranken Freund Paul, und je näher die Hintergründe des Roccamatio-Romans an die Gegenwart heranrücken, desto mehr drängt sich Pauls Leiden und Sterben in den Vordergrund. Er wählt seine Geschichten nach seinem Gesundheitszustand aus: Jeder Rückschlag, jeder Hoffnungsschimmer spiegelt sich unmittelbar in seiner privaten Weltgeschichte ab. Sein Koautor muß erst noch lernen, daß so unwägbare Dinge wie Mitleid, Zärtlichkeit, Erbarmen, Trotz und Trost wichtiger sind als historische "Wahrheiten". Schreiben ist eine Funktion des Lebens. Das zwanzigste Jahrhundert war voller Greuel und Gewalt, und das Decamerone der beiden Freunde kann sie weder verdrängen noch Pauls qualvollen Tod aufhalten. Aber im gemeinsamen Erzählen von Geschichten haben sie der Geschichte die Stirn geboten, mit ihrer ungerichteten Phantasie die ganze Welt umarmt und so doch noch so etwas wie "Sinn aus all diesem Unsinn" destilliert.
Für Yann Martel ist Erzählen praktizierter Humanismus, aufgeklärter Idealismus, denkbar weit entfernt von Pessimismus und Zynismus. Noch in der ausweglosesten Situation findet er einen Funken Hoffnung, der das Weiterleben lohnt. Sein "Schiffbruch mit Tiger" war eine Hymne auf skeptische Demut, Toleranz und kreatürliche Solidarität: Wenn ein mißtrauisch lauerndes Raubtier und ein schiffbrüchiger Waisenknabe auf einem Floß friedlich koexistieren können, ist das Paradies noch nicht verloren. Der Welterfolg des Romans ermutigte Martell jetzt, seinen 1994 noch sang- und klanglos untergegangenen Erzählband in einer überarbeiteten Fassung noch einmal aufzulegen.
Die vier Erzählungen sind sichtlich Jugendwerke. Martel hat zwar, wie er im Vorwort bekennt, Ungeschicklichkeiten ausgebügelt und den "Drang zum Überschwang" gezügelt, aber die Pranke des Tigers zeigt sich in diesen eigentümlichen Kreuzungen aus jugendfrischem Sturm und Drang, Orientierungssuche und konzeptualistischen Abstraktionen selten. Eben als Philosophiestudent zweimal durchgefallen und wieder bei den Eltern untergeschlüpft, war Martel damals "unschlüssig, was ich mit meinem Leben anfangen sollte": Er arbeitete als Tellerwäscher und Nachtwächter; seine ersten literarischen Versuche - Kurzgeschichten, absurde Theaterstücke, ein Roman - genügten nicht einmal seinen eigenen Ansprüchen. Aber das Erfinden fremder Welten war für ihn eine "private Universität", und im Gegensatz zu vielen seiner deutschen Kollegen schaute er schon immer lieber nach außen als nach innen. Eine Geschichte bedarf einer "guten Idee, die zugleich rührt": Sie muß bewegen, den Verstand ansprechen und unterhalten, und das ist Martell jedenfalls schon ganz gut gelungen.
"Tut mir leid, besser konnte ich es nicht", sagte Paul kurz vor seinem Tod. "Jetzt bist du dran." Martel hat den Stab aufgenommen und weitergetragen: Alle Geschichten handeln von Niederlagen, Verzweiflung und Tod; keine entläßt den Leser ungetröstet. In "Der Tag, an dem ich das ,Soldat-Donald-J.-Rankin-Streichkonzert mit einer dissonanten Violine' des amerikanischen Komponisten John Morton hörte", entdeckt er in den Ruinen eines aufgelassenen Theaters seinen Kulturtempel und in dem herzergreifend mißtönenden Konzert eines als Putzmann vegetierenden Vietnamveteranen seine Schicksalsmusik: "Jeder falsche Ton ließ die unerreichbare Vollkommenheit anklingen, jede Schwäche war eine Befreiung. Wie Punkrock, wie Jackson Pollock, wie Jack Kerouac war es durch und durch menschlich, eine Mischung aus perfekter Schönheit und befreiender Unvollkommenheit." In "1096 Arten zu sterben" schreibt ein Gefängnisdirektor neun Kondolenzbriefe an die Mutter eines Hingerichteten: Mal bestellte der Todeskandidat Kaviar, mal Pellkartoffeln als Henkersmahlzeit; mal ging er ernst und blaß, mal schreiend oder auch hysterisch lachend zum Galgen. Immer war er im Sterben allein; aber noch in nüchternen, formelhaften Sätzen des Direktors (und dem seriellen Erzählverfahren Martels) schimmert das Erstaunen darüber durch, wie ein Verworfener im Angesicht des Todes Individualität, Menschenwürde, Anspruch auf Respekt und Erbarmen zurückgewinnt.
In "Spiegel für die Ewigkeit" treibt Martel seine Lust an typographischen und literarischen Experimenten am weitesten: Während die Großmutter in einer Textspalte ihre Jugenderinnerungen ausbreitet, kommentiert in der anderen ihr Enkel die Suada mit gelangweilten, mürrischen Einwürfen. Zu spät bemerkt er, daß ihr endloses "Bla-bla", ihre Sammelwut und ihre kuriose "Spiegelmaschine" dem verzweifelten Versuch entsprangen, die Zeit an- und die Erinnerung festzuhalten. Die Geschichte ist die schwächste; sie hantiert mit aufdringlichen Symbolen und überflüssigen Erläuterungen. Aber sie enthält auch Martels ganze Poetik: Wo für Stendhal der Roman ein Spiegel auf der Landstraße war, ist das Erzählen für ihn ein magischer Apparat aus dem Trödelladen, der menschliche Erinnerungen auf oxydierten, an den Rändern schon blinden Spiegeln fixiert und so vor der Korrosion durch Vergessen schützt: "Neue Spiegel sind uninteressant. Sie sind Industrieprodukte, glatt und makellos klar. In ihnen gibt es nichts zu lesen."
MARTIN HALTER
Yann Martel: "Die Hintergründe zu den Helsinki-Roccamatios". Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 191 S., geb., 19,90 [Euro].
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