Soldatenkaiser gelten, die im dritten Jahrhundert das angeschlagene Römische Reich nach allen Seiten verteidigten.
Zu jenem Buch, dessen Manuskript nach dem Tod des Kaisers im Frühjahr 180 im Legionslager vor Vindobona, dem späteren Wien, bei seinen Habseligkeiten gefunden wurde, ließe sich eine zweite interessante Liste anlegen. Sie handelt von den vielen verschiedenen Übersetzungen, die der griechische Originaltitel "Ta eis heautón" im Lauf der Neuzeit erfahren hat: "Wege zu sich selbst", "Selbstgespräche", "Selbstermahnungen", "Selbstenthüllungen", "Pensées", "Soliloques", "Meditations", schließlich im Deutschen verbindlich "Selbstbetrachtungen". Sie bezeugen die anhaltende Wirkungsgeschichte des 1599 erstmals gedruckten Traktats.
Im Zeitalter des Absolutismus galt Marc Aurel als Inbild des aufgeklärten Monarchen: Fürsten wie ihn heranzubilden sei "der schönste Lohn", den er für sein Tun erwarten könne, schrieb Friedrich der Große. Das neunzehnte Jahrhundert blickte in Gestalt Hegels und Nietzsches gehässiger auf den philosophierenden Kaiser, aber das zwanzigste setzte ihn wieder ins Recht. Zu allen Zeiten hat sein Buch als Lebenshilfe gedient, zumal für jene, die in schwieriger Lage ein Amt innehatten. Der 2015 verstorbene Altkanzler Helmut Schmidt fand in dem Buch seinen Leitstern. Ihm hat Alexander Demandt seine Marc-Aurel-Biographie gewidmet.
Demandt, bis 2005 Professor für Alte Geschichte in Berlin, ist Experte für Verfallszeiten ("Die Spätantike", "Der Fall Roms") und historische Spekulation ("Ungeschehene Geschichte"). Beide Themenfelder berühren sich wenig mit Marc Aurel. Hätte er nicht gelebt, hätte ein anderer die Markomannenkriege geführt. Roms Ende wiederum war zu seiner Zeit noch lange nicht in Sicht, auch wenn die antoninische Pest, die Überfälle der Donauvölker, die Hungersnot in Rom und der Ansturm der Parther das Reich beutelten.
Dennoch spürt man in der Lebensgeschichte des Marcus, wie Demandt ihn nennt, stets untergründig den Blick des Spätantike-Historikers. Der Rückblick auf das Imperium seit Augustus, zumal auf die Adoptivkaiser Trajan und Hadrian, fällt ernüchternd aus, und mit der Heiterkeit der Friedensjahre, die sich im tändelnden Ton der Briefe zwischen dem jungen Prinzen und seinem Erzieher Fronto spiegelt, ist es bald vorbei. Für Mommsen war Marc Aurels Epoche die Generalprobe zur Völkerwanderung, und so sieht es auch Alexander Demandt. Mit dem Herrschaftsantritt beginnt die Krise: Die Euphrat- und die Donaugrenze wanken, Barbaren plündern den Tempel von Eleusis, wo sich Marcus selbst hat in die Mysterien einweihen lassen, und in Rom zittert der Plebs vor den nahenden Horden. Der Kaiser, alles andere als ein soldatischer Charakter, ruft sämtliche Götter Roms zu Hilfe, lässt Gold- und Silbergerät zur Münzprägung einschmelzen und eilt an die Front.
Für die Antike und noch für den roi philosophe von Sanssouci lag in diesem Akt der Selbstüberwindung die eigentliche Leistung Marc Aurels. Demandt konstatiert dagegen kühl, der Kaiser sei "eilig, aber verspätet" vor das belagerte Aquileia gezogen, woraufhin die Germanen mit ihrer Beute den Rückzug angetreten hätten. Auch bei der Schilderung der Kriegszüge und des Sterbelagers in Wien hält er rhetorisch den Ball flach, und die Beschreibung des Caballus, der Reiterstatue Marc Aurels auf dem Kapitol, überlässt er dem schwärmenden Hippolyte Taine.
Dafür erzählt Demandt die Anekdote von Hitlers Rombesuch, bei dem Heinrich Hoffmann das Standbild so fotografierte, dass der Reiter die Rechte zum "deutschen Gruß" zu recken schien. An anderer Stelle kommentiert er die Abschaffung des Asylschutzes vor Kaiserbildern durch Antoninus Pius, den Vorgänger des Marcus, für den heutigen Leser: "Der Missbrauch des Asylrechts ist so alt wie dieses selbst."
Solche Seitenhiebe ins Parkett sind über das Buch verstreut wie Lichtpunkte in einem Gemälde. Manche spenden tatsächlich Helligkeit, so wenn Demandt bemerkt, das Dauerproblem der Städte sei "schon damals!" ihr Haushalt gewesen. Andere flackern nur kurz wie die Sottise über einen Schauspieler, der "den Commodus inkommodieren" konnte und deshalb von diesem, dem Sohn und Erben Marc Aurels, beseitigt wurde. Eine einzige hätte das Lektorat dem Autor und uns ersparen sollen; es sind die Verse, mit denen Demandt seine Betrachtungen über die "Selbstbetrachtungen" abschließt: "Zum Thema Philosophie / gibt's Bücher wie noch nie. / Zum Thema Weisheit ist Fehl- / anzeige seit Marc Aurel." Mag sein, dass ein Hexameter hier die bessere Lösung gewesen wäre. Aber eigentlich hätte es auch das gar nicht gebraucht.
Denn in jenem kaum vierzig Seiten umfassenden Kapitel über die Lebensphilosophie des Kaisers läuft dieses marmorkühle Buch sich noch einmal richtig warm. Die Rebellion des Avidius Cassius, die Lage von Verwaltung und Recht, die Christenverfolgungen und christlichen Legendenbildungen, das alles hat der Historiker mit Fleiß und sporadischem Ingrimm aufgearbeitet, aber hier, kurz vor Schluss, gibt er seine Reserve auf. Das Aphorismenbuch des Marc Aurel, eigentlich eine Schülerschrift, lässt ihn an einen Bildhauer denken, der seinen Meißel gegen sich selbst richtet, um seinem Idealbild von Humanität näherzukommen. Ebendarin liege die Faszination der "Selbstbetrachtungen" - "weil man sich immer wieder in der gleichen Lage entdeckt, in der sich Marcus findet und zurechtfinden muss."
Man kann das natürlich viel pompöser und feierlicher sagen, so wie frühere Zeiten und Autoren es getan haben. Aber gerade die schlichte und schmucklose Formulierung, in die Demandt seine Erschütterung kleidet, scheint unserer heutigen geschichtlichen Situation zutiefst angemessen. So wie dieses Buch.
ANDREAS KILB
Alexander Demandt: "Marc Aurel". Der Kaiser und seine Welt.
C. H. Beck Verlag, München 2018. 592 S., Abb., geb., 32,- [Euro].
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