Australiens, um an der dortigen Grundschule zu unterrichten. Kates Kindheit ist gerade erst vergangen, sie ist ihr aber noch nicht recht entwachsen. Sie ist zweiundzwanzig, sie weiß nicht, wo ihr der Kopf steht und was sie mit ihrem Körper anfangen soll. Das wiederum weiß Thomas, der Vater eines ihrer Schulkinder, um so besser. Die beiden beginnen eine Affäre. Sie spielt dabei die Unschuld vom Lande, eine Kindfrau, Lolita - wenn er es ihr einflüstert. Ist Thomas nicht da, rebelliert Kate gegen das Verhältnis, um ihren Widerstand unter seinen Händen doch nur wieder aufzugeben.
Vor einigen Jahren hat sich in der Gegend ein Mord ereignet. Die junge Ellie Siddel starb an Messerhieben. Sie war die Geliebte des Tierarztes von Black Swan Point, dessen Frau nach dem Tod des Mädchens verschwand. Ist die Betrogene die Täterin, sprang sie danach von den Klippen? Thomas' Frau Veronica hat ein Buch über das ungeklärte Verbrechen geschrieben. Veronica ist längst dahintergekommen, was ihr Gatte treibt. Kein Wunder, daß Kate, die ständig aufgelöste, haltlos driftende Ehebrecherin, sich und ihre Rolle im brutal beendeten Dreiecksverhältnis von damals zu erkennen glaubt.
Kate sieht bald Gespenster. Nachdem ihr eines Tages im tasmanischen Hinterland der Keilriemen reißt und sie beinah verunglückt, hat sie Veronica im Verdacht. Den rauhbeinigen Einsiedler, der ihr und dem Wagen aus der Klemme hilft, bezichtigt sie insgeheim, ihr etwas antun zu wollen. In die Tür des Klassenzimmers hat ein Unbekannter obendrein "Ich Weiss Alles" geritzt. Um die aufsteigende Panik zu besänftigen, sich zu trösten und ihre Welt wieder zu verfugen, stellt Kate sich den Kriminalfall und nach und nach auch ihre eigenen Liebesdelikte als Kinderbuch vor. Mit Wolly Wombat, Kitty Koala und Winston Wolf, dem Tierdetektiv und Profiler auf Samtpfoten: ",Dreh dich um, Kitty!' rief der Beutelwolf flehentlich. ,Bitte schau nicht hin!' Ellies Zimmer mit der blauen Rosentapete trug alle Anzeichen eines tödlichen Kampfes." Es klingt, als erzählte Beatrix Potter James Ellroy nach - oder umgekehrt. "Winston Wolf hielt Kitty Koala die Augen zu. Er konnte selbst kaum hinsehen, doch er zwang sich dazu. Und er dachte: Hier ist ein wildes Tier am Werk gewesen - ein wirklich wildes Tier."
Diese puppenstubenhaften Passagen binden die Stränge und Motive des Romans zusammen. Blut, Scham und Schande weichzuzeichnen und gleichsam zu verniedlichen ist Chloe Hoopers bester Kunstgriff, so betörend wie verstörend. Da entspinnt sich ein Netz, das abfedern soll, was Kate auf die Seele fällt. Sie errichtet einen Schutzzaun um ihre ramponierte Unschuld, die bestürmt wird von Sex und Neid, vom sensationellen Gefühl, ein Objekt der Begierde oder das "prädestinierte Opfer" eines Verbrechens zu sein. Doch je mehr Kate strauchelt, je mehr sie aus Ratlosigkeit die Femme fatale oder verruchte Thekenschlampe markiert, desto gröber wird der Filter, desto vergifteter die Idylle: weniger Potter, mehr Ellroy.
Es wäre nun leicht gewesen, den Roman auf halber Strecke ganz in einen Psychothriller zu verwandeln, das Tempo zu steigern und den Sack schließlich mit einem Ruck zu verschnüren. Chloe Hooper erliegt dieser Versuchung nicht. Sie wendet die Geschichte statt dessen immer weiter nach innen, was ihr gut tut, und verengt sie zum Kesseltreiben um Kate. Die überträgt ihre Angstlust, das Mädchen abzustreifen und zur Frau zu werden, auf Lucien, den begabten neunjährigen Sohn ihres Liebhabers. Aus dessen Zeichnungen meint sie einen gemarterten Jungen herauszulesen, der an der Kälte seiner Eltern langsam eingeht und an ihren Ansprüchen. "Wäre es nicht nett", läßt Kate die alte Kinderbuchbärin brummen, "wenn es ein Rezept gäbe, um nicht erwachsen werden zu müssen?"
Kate versucht, sich gegen die Küsse ihres Liebhabers und das Begehren, das sie in ihr wecken, zu immunisieren. Aber sie ist wehrlos, antriebsarm und letztlich ausgeliefert, was ihr aber offenbar gefällt. "Kontraphobie nennt man das wohl, wenn man sich Hals über Kopf in die Sache stürzt, die einem am meisten Angst einjagt", sagt sich Kate einmal achselzuckend. "Immer munter dem Treibsand entgegen." Oder dem Lichtkegel - wie die Wallabys, deren zerschmetterte Körper die Landstraßen Tasmaniens säumen. Kate erinnert sich, daß ihre Mutter stets "armes Ding" seufzte, wann immer sie ein überfahrenes Tier in der Dämmerung passierten, und sich dann wunderte, warum die Wallabymütter ihren Kindern nicht verböten, den weißen Streifen zu betreten, der nirgendwohin führe. "Als ob die Kinder darauf gehört hätten", versetzte die widerspenstige Kate. Das arme Ding.
Chloe Hoopers Stärke ist ihr Gespür für Schwäche. Da faßt sie nach, da will sie genauestens wissen, woher das kommt, wohin das führt. Mitgefühl leitet der Autorin nicht eben die Hand, eher kühle Neugier. Sie psychologisiert, kommt aber dabei ohne sperriges Vokabular aus. Sie preßt ihren Roman in ein Kindchenschema und bringt dabei lauter Fratzen zum Vorschein. Es ist aber zuletzt der beherrschte Ton, mit dem Chloe Hooper besticht, der besondere Formwille dieses Porträts. Von einer, die sich auszog, das Fürchten zu lernen.
TOBIAS RÜTHER
Chloe Hooper: "Märchen eines wahren Mordes". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 2003. 256 S., geb., 19,90 [Euro].
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