Schriftsteller sammelt, verhalten sich zueinander wie Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Der Geschmack des Publikums hat sich auf die Seite der ersteren geschlagen. Im Stil einer "neuen Mündlichkeit" holt Max Goldt - und mit ihm Maxim Biller, Joseph von Westphalen und andere - seine Erfolge ein. Diese Glossenschreiber plaudern nicht, sie plappern, sie bemühen kein Bildungswissen, sondern schauen den Leuten aufs Maul, sie distanzieren sich nicht durch Nachdenken von ihrem Gegenstand, sondern reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Flotte Vulgarität ist Stil dieser neuen Generation der Gesellschaftskritiker. Sie kehren bei ihren Lesern ein und machen es sich in deren Schmollwinkel bequem. Für sie wäre Jerofejew ein unliebsamer Störenfried, weil er von seinem Gastgeber statt der schief aufs Ohr gesetzten Schlafmütze einen aufgeräumten Kopf erwartete.
Jerofejews Glossen gehören in die Gattung des Feuilletons vom Anfang des letzten Jahrhunderts, sind hellsichtig, scharfsinnig und elegant geschrieben. Die Zugehörigkeit zu einer Elite der Schriftkultur verleugnet der Autor nicht. Der Satzbau seiner Texte ist kompliziert, der Gedanke hinterlistig, das sprachliche Material anspielungsreich und voller Zitate. Freilich war das frühere Feuilleton Produkt einer mündlichen Kultur, der des Salons und der Cafés. Dort aber trafen sich Menschen, die gerade das Buch weggelegt oder das Theater verlassen, sich also mit Geschriebenem beschäftigt hatten, um nun darüber zu konversieren. Im Salon ist die Sprech-Sprache Schrift-Sprache, und so durfte im Feuilleton die Schriftsprache wie gesprochen klingen. Konversation ist eine Kommunikation, die deshalb so glatt vonstatten geht, weil das Geschriebene für sie Maßstab und Orientierung ist. Das Zeitungsfeuilleton als Ganzes ist der Begleittext einer solchen Kommunikation, es macht Themenvorschläge für die gesellige Runde; die Gattung des "kleinen Feuilletontextes" war dabei das Salz, das der Geistreiche in die Mixtur aus Bildungsernst und Plaudersucht gab. Die neuen Feuilletonisten aber sind einsame Exhibitionisten, die eine Sprechweise ausstellen, von der sie glauben, daß sie die der anderen sei.
Jerofejew ist der Causeur, der sich der Koketterie nicht schämt, mit der er den kulturellen und politischen Ernst umwirbt. Schon der anziehende Titel seiner Sammlung "Männer. Ein Nachruf" gibt sich keß und schadenfroh. Mißverständlich ist dieser Titel zwar, wenn man ihn so allgemein als humoristische Reaktion auf einen feministischen Angriff versteht. Tatsächlich handeln die Texte fast ausschließlich vom russischen Mann, und besser lautete er: "Rußland. Ein Nachruf". Viele Texte beschreiben das Land am Übergang zur Perestrojka. Der Wandel schlägt sich in Nebensächlichkeiten nieder, wo sie der Feuilletonist aufspürt: Der Marquis de Sade hält Einzug in den russischen Buchhandel, im Restaurant in der Nähe des Klosters Optina Pustyn ertönt westliche Musik, zwar verachten noch alle Russen die Frauen - so verrät es ihre Sprache -, aber überhaupt ist die russische Kultur eine "Gaunerkultur geworden und in dieser Eigenschaft verführerisch für viele unabhängige russische Köpfe". Ein "geologischer Erdrutsch" hat stattgefunden: "Wir tauschen die fünf Finger gegen den Kamm, den Panzerwagen gegen Parfüm, obszönes Fluchen gegen Englisch, Scheiße gegen Mist, Gestank gegen eine Million, Pfusch gegen Gewinn, den Ersten Mai gegen einen Popen, Schwarzmalerei gegen Schuhcreme, Heiserkeit gegen langes Leben, den Parteiausweis gegen einen dicken Ring, Buch gegen Fernseher, den Stahlwerker gegen einen Jeep, löchrige gegen neue Socken, Kolchose gegen Business, kein Geld gegen Geld."
Von seinem Namensvetter Wenedikt Jerofejew sieht sich der Autor vom Buchmarkt verdrängt und rechnet mit ihm ab in einer "Metaphysik der Namensgleichheit", denn "er war untalentierter als ich. Er war mein Abgott, mein Idol . . ." Nicht zufällig richtet nach diesem "Brudermord" Jerofejew eine Hommage an sein eigentliches Idol, an Tschechow, denn es ist der Konversationsstil dieses Dichters, den er sich zum literarischen Muster gewählt hat: "Einmal hat er mich mit einem Brief verblüfft, in dem er irgendjemandem erzählt, er könne über alles Mögliche eine Erzählung schreiben, wenn es sein müsse, auch über einen Aschenbecher." Es wäre denkbar, daß Jerofejew, der eine Art Vogelschau unter den Dingen seiner Umwelt hält, um sie nach verräterischen Omen zu befragen, einem Aschenbecher Geist und Leben abhorchen könnte.
Der Verlag, der Türsteher, der zu diesen Salongesprächen Einlaß gewährt, erledigt seine Aufgabe sehr zum Schaden der Verständlichkeit. Zwar vertragen solche Texte keinen Ballast an Erklärungen und editorischen Noten. Aber auch der Neuankömmling in einer Abendgesellschaft müßte mit zwei Worten darüber informiert werden, in welchen Kontext des Gesprächs er eintritt. Hat nun, so fragt sich ein weiblicher Leser, der sich weder in der Realität noch im Fernsehen auf Fußballplätzen herumtreibt, Ungarn über Frankreich gesiegt oder nicht, damals im "Drôme", wann mag das Spiel stattgefunden haben, und was stand auf dem Spiel, Europa- oder Weltmeisterschaft? Ohne eine Information bleibt Jerofejews "Beschreibung des Gegners" nebulös. Auch wüßte man gern, wann und wo diese Feuilletons erschienen sind, da sie sich oft auf politische Ereignisse beziehen, so daß Art, Ort und Richtung des Publikationsorgans aufschlußreich wären. Offensichtlich aber kommt ein Verlag doch besser mit der "neuen Mündlichkeit" zurecht, die sich ihre Themen durch Mundpropaganda zureicht, so daß er sich das bißchen geschriebene Erklärung auch noch sparen kann.
Viktor Jerofejew: "Männer". Ein Nachruf. Aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 192 S., geb., 32 Mark.
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