gleichaltrigen Kollegen will er "Madame" nicht zum Objekt ungebändigter Jungmännerphantasien verkommen lassen. Er fühlt sich reif und erwachsen, versucht es mit ihr aufzunehmen, stellt ihr nach, doch die Angebetete erhört ihn nicht: Übersehen werden seine ausgefuchsten Störmanöver im Unterricht, seine überdurchschnittlichen Leistungen in Französisch mit nicht mehr als einem "bon" quittiert. Unbeantwortet bleiben die zaghaften Annäherungsversuche hinter seinen vorwitzigen Fragen, unkommentiert seine anspielungsreichen und ausführlichen Zusatzhausaufgaben. Dabei hat er die Texte doch nur an sie adressiert.
Er leidet nach allen Regeln wertherscher Kunst, sieht die Welt mit ihren Augen, doch sie sieht nicht, was er sieht. Eines Tages schließlich kommt es zum Tête-à-tête: Handwerklich nicht eben eine Leuchte - das gehört nun einmal zur Figur des träumenden Musterschülers - , sägt er sich im Werkunterricht, trotz wiederholter Warnung seines Lehrers, den Zeigefinger an. Ein tiefer Schnitt, man muß Hilfe holen. Und weil das Arztzimmer der Schule nicht besetzt ist, wird die Direktorin alarmiert. Sie kommt tatsächlich, beugt sich über den Verletzten und bittet ihn - allein - zu sich ins Büro, wo sie, unter geistreichen Scherzen, in ihrer Handtasche kramt und Verbandszeug hervorholt. Sie verarztet die Wunde mit einem Taschentuch und einem Tropfen Chanel No. 5. Und dabei ergibt sich plötzlich wie von selbst ein langes Gespräch zwischen den beiden: Über Racines Phädra, über erotische Zeichnungen von Picasso und einen Liebesfilm der Nouvelle Vague. "Nach diesen Vorkommnissen war ich lange nicht ich selbst", resümiert der junge Mann an dieser Stelle und besinnt sich auf die Grundregeln des Schachspiels, seinen einzigen Kompaß des Zwischenmenschlichen: "Nicht zu früh angreifen, und am Anfang ja nicht mit der Dame herauskommen; soweit wie möglich eine weniger bekannte Eröffnung wählen, diese methodisch entfalten und auf einen Fehler des Gegners warten; die Offensive erst aus einer stärkeren Position beginnen." Das Spiel nimmt seinen Lauf.
Was Antoni Liberas spätes Romandebüt "Madame" auszeichnet, sind weniger diese etwas abgegriffenen Szenen aus dem Fundus begrenzter Möglichkeiten und Klischees, die eine Oberschüler-Lehrerinnen-Romanze, zumal wenn es sich bei der Lehrerin um eine Französischlehrerin handelt, mit sich bringt. Was die Stärke des Buches ausmacht, ist sein Schauplatz, das Warschau der sechziger Jahre, sein intellektuelles und politisches Klima, in das Libera den Leser bis in die letzten Einzelheiten hinein zu versetzen vermag. Es geht um jene Jahre des "Tauwetters" nach Stalins Tod, als die kommunistische Ideologie in Alltagskultur und Bildungssystem, Kunst und Historiographie selbstverständlich zu werden beginnt, eine Zeit, die heute immer noch spontan mit dem polnischen Adjektiv "szary", das heißt grau, eintönig, gleichgesetzt wird. Und in der man entgegen der offiziellen Losung "nicht die Illusion hegte, daß man Geschichte schuf".
Was sich jedoch unter dieser grauen Oberfläche im Leben des einzelnen wie in bestimmten familiären oder intellektuellen Zusammenhängen abspielte, war weitaus reicher an Nuancen. Hier konnten kleine Entscheidungen existentielle Folgen zeitigen und Zufälle wie das Verpassen eines Zuges - die frühen Filme von Kieslowski führen das drastisch vor Augen - manchmal ganze Biographien verändern.
Vor diesem Hintergrund wird Liberas Rückgriff auf das klassische Genre Bildungsroman als Erzählform nachvollziehbar. Das Hineinwachsen eines jungen Mannes in die Welt der Poesie und der Gedanken, nachlesbar nicht nur in der Fülle zitierter klassischer Literatur, insonderheit Shakespeare, Racine und Goethe, sondern auch in vollständig abgedruckten Schulaufsätzen und Gesprächen, ermöglicht die biographische Wiederaneignung jener grauen Jahre.
Zudem beleuchtet der Ich-Erzähler verschiedene für das kommunistische Polen signifikante Schlüsselerlebnisse: Das Bergwandern durch die Tatra "auf Leninscher Trasse" in organisierten Touristengruppen oder die Enttäuschung, als sein schauspielerisches Talent beim Schulfest mit einer DDR-Uhr der Marke "Ruhla" preisgekrönt wird, die er anschließend auf den Straßenbahnschienen im Zentrum von Warschau "hinrichtet". Unentbehrlich und allgegenwärtig ist auch die bekannte Stimme eines Sprechers von Radio Freies Europa. Das permanente Rauschen, das Getöse miteinander im Krieg befindlicher Radiowellen in der Wohnung seiner Eltern raubt ihm die Ruhe, ermöglicht es aber auch, nach nächtlichen Streifzügen unbemerkt in die Wohnung zu gelangen.
Libera macht seine Leser mit den Interieurs staatlicher Büros und der Launenhaftigkeit des dort beschäftigten weiblichen Personals vertraut, er erzählt von einem Romanisten, der eine Tagung in Tours dazu nutzt, russischen Kaviar gegen große Mengen Bic-Kugelschreiberminen einzutauschen, die zu Hause ein ansehnliches Vermögen bringen. Doch "Madame" schreibt noch eine andere Geschichte, die vor Augen führt, warum die Rückaneignung der grauen Jahre, trotz aller Klischees, die diese Konstellation mit sich bringen mag, sich nur durch die Figur einer Französischlehrerin und nicht etwa einer Deutsch- oder gar einer Russischlehrerin in Gang bringen läßt. Denn Frankreich und das Französische besetzen seit der großen Emigration im neunzehnten Jahrhundert, als Paris zum "anderen Ort" des freien Polen wurde, im polnischen Imaginären einen bestimmten Platz. Mickiewiczs Vorlesungen am Collège de France sind dessen Symbol. Das vermochte auch und gerade der Kommunismus nicht zu verändern. Im Gegenteil, nicht nur spielten französische Sprache, Literatur und Philosophie im intellektuellen Untergrund eine herausragende Rolle, auch die einschlägigen Exilzeitschriften jener Jahre wurden in Paris verlegt.
Liberas Roman schreibt die französisch-polnische Übertragung als Liebesroman fort. In seinen Dialogen und komplizierten Gedanken trägt er manchmal sogar Züge eines Rohmer-Films oder eben auch eines, französisch inspirierten, späten Kieslowski.
Antoni Libera: "Madame". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Karin Wolff. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2000. 494 S., br., 34,- DM.
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