fremden Feder: Er las das Manuskript von Arundhati Roys Roman "Der Gott der kleinen Dinge" während einer Zugfahrt in Nordindien, sprang nach Lektüre der ersten Kapitel begeistert aus dem Abteil, um seinen Verleger anzurufen, damit ihm bei der Annahme des Manuskripts niemand zuvorkomme. Dieser Geniestreich gehört zur literarischen Folklore Indiens. Der Roman wurde ein Weltbestseller.
Dagegen las sich Mishras eigener Roman "The Romantics" wie ein blasser Reiseführer über Benares. Früh genug muss der Autor gespürt haben, dass seine Stärke nicht in der Belletristik, sondern im erzählenden Essay liegt. Im vorliegenden Band "Der Lockruf des Westens" beschreibt er geschickt autobiographische Stationen vor dem breiten Panorama der Geschichte Indiens seit der Unabhängigkeit und macht so Politik und Gesellschaft zum Greifen persönlich und lebendig. Das englische Original von 2006, zunächst in London erschienen, umfasst auch Essays über Pakistan und Afghanistan. Der Berenberg Verlag tat gut daran, sich auf vier Essays über Indien zu beschränken, welche die Namen von drei Städten - Benares, Allahabad, Ayodhya - und den von Bollywood besitzen, die Filmindustrie in Bombay. Pankaj Mishra zeichnet, repräsentiert von diesen vier Wohnorten, einen Augenzeugenbericht der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des Landes. Als Student oder Journalist hat er lange in den erwähnten Städten gewohnt und die Reibungen zwischen den politischen Parteien und Religionsgemeinschaften, hier insbesondere zwischen Hindus und Muslimen, miterlebt. Er erzählt von mittleren Parteigrößen und Priestern, Filmhelden und Geschäftsleuten, von kleineren und nicht so kleinen Gangstern, mit denen er Gespräche führte, die er beobachtete und deren Lebensfeld er zu verstehen suchte.
Im Kapitel "Allahabad" beschreibt der Autor die Geschicke der ersten Politfamilie des Landes, den Nehrus, bis hin zu Indira Gandhi und ihren Söhnen Sanjay und Rajiv, einer verwestlichten, verwöhnten Familie, die seit dem Unabhängigkeitskampf der dreißiger Jahre bis heute das Schicksal des Landes maßgeblich beeinflusst. Nebenhandlung ist die allmähliche Entfaltung eines nationalen Wahlkampfes. In "Ayodhya", der vishnuitischen Pilgerstadt und dem mythischen Geburtsort von Gott Rama, beschäftigen den Autor die Hintergründe der Zerstörung der Babri-Moschee im Dezember 1992, eines Wendepunkts der indischen Geschichte, der dann auch zu dem Massaker an zweitausend Muslimen in Ahmedabad 2002 führte. In "Bollywood" geht es um die Machenschaften der Filmindustrie im Spannungsfeld von Ehrgeiz, mafiösen Unterweltgeschäften, politischen Intrigen und unglaublichen Zufällen.
Pankaj Mishra schreibt nüchtern, detailgetreu, unaufgeregt, niemals übertreibend, geradezu bieder. Im Stil ist nichts zu spüren von der hitzigen, quirlenden, hektisch-lauten Atmosphäre der Städte. Mishra schildert Korruption und Opportunismus, ihn lässt die fanatische Mentalität der Hindu-Nationalisten nicht los. Das Indien, das er dem Leser vorstellt, hat nichts von einer Idylle; es ist ein düsteres, schmieriges, hässliches, moralisch abgewirtschaftetes Indien, das dem "unglaublichen" Reiseland Indien ebenso knallhart widerspricht wie dem erwachenden Wirtschaftsgiganten.
Pankaj Mishra ist selbst in einer Kleinstadt Nordindiens und in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Im Gegensatz zu vielen anderen Indien-Büchern kann Mishra die Not der Armen mit Sympathie und ohne oberflächliche Sensationsmacherei darstellen, was dem Buch seine Rundheit und Fülle gibt. Derzeit erscheint ein Buch nach dem anderen, das Indien "erklären" will. Nicht nur Journalisten, auch Unternehmer und Diplomaten beteiligen sich an dem ehrgeizigen Geschäft. Pankaj Mishras reifes Werk sticht unter ihnen hervor, man darf sich ihm ohne Vorbehalte anvertrauen.
Pankaj Mishra: "Lockruf des Westens". Modernes Indien.
Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Berenberg Verlag, Berlin 2011. 208 S., geb., 24,- [Euro].
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