untrennbar bleiben, sind die Liebenden einander verfallen.
Liebe als Lebenselixier hilft aber auch jener Kraft, mit der sich Helga M. Novak gegen politische Unterwerfung gewappnet hat. In Berlin geboren, zu DDR-Zeiten in eine Kaderschule aufgenommen, mit Unterbrechungen nach Island verschlagen, wo sie heiratete und zwei Kinder bekam, Studium am Leipziger Literaturinstitut, dem Hinauswurf folgend die Aberkennung der DDR-Staatsangehörigkeit - das sind keine Lebensstadien einer Angepassten. Ein großes vierzehnteiliges Gedicht ("Pate") handelt von der Liebe im Überwachungsstaat, von heimlichem Aufpassertum, von gefälschten Protokollen, von Vertrauensbruch und Liebesverrat.
Silke Scheuermann, selbst Lyrikerin, Herausgeberin dieser Anthologie von Liebesgedichten und Autorin eines inspirierten Nachworts, hat sich nicht für eine biographisch-chronologische, sondern eine thematisch bestimmte Sammlung entschieden und damit die biographische Spur in den Einzelgedichten überdeckt zugunsten durchgehender Grundsituationen. Sie sind zusammengefasst unter den vier Abschnittstiteln "Frühling", "Alltage", "Verlassen" und "Artemisleben". Trotz der unerhört sinnlichen Sprache der Gedichte ist nicht Aphrodite, die durch ihre Schönheit hinreißende Verführerin, die Wahlgöttin der Lyrikerin, sondern Artemis, die vielgestaltigste unter den griechischen Göttinnen. Gewiss, mit der jungfräulichen Strenge, mit der Artemis über die Tugend ihrer Nymphen und Priesterinnen wacht, lassen sich die Gedichte nicht zur Deckung bringen (ein paarmal allerdings taucht signalhaft das Wort "Enthaltsamkeit" auf), wohl aber mit Artemis als dem Inbild einer Leben erzeugenden oder hegenden Naturkraft, mit der Göttin, die Tiere zugleich pflegt und jagt, mit der Jägerin in der Wildnis. Dazu muss man wissen, dass Helga M. Novak seit mehr als zwanzig Jahren ihren festen Wohnsitz in Polen hat, in einem Wald, in der Wildnis. "Landschaft Erde Natur / alles weiblich / dahin will ich gehen"; sie wäre "verloren ohne Wald".
Hier scheint nach langer Suche und den Kämpfen der Selbstbehauptung die Dichterin zu ihrem anderen Ich gefunden zu haben. So heißt es im Gedicht "dieser Wald": "Traum meiner Kinderjahre unentwegtes Gehen / Erfüllung und Erinnerung Wald so zerschossen und / gerupft dieser Wald und kein anderer meine / wiederkehrende Deckung zärtlicher Schutz erlösendes / Untertauchen ... mein Obdach und meine Verwilderung / dieser Wald setzt mich in Brand schon knistert / meine Haut ... dieser Wald, in dem ich nie alleine bin mit meiner / heilsamen Einsamkeit". Unabweisbar aber wird die Wahrnehmung der verrinnenden Lebenszeit: "warum entdeckt denn keiner / die Schönheit meines Verfalls?"
Aber nicht mit einem Trauergesang der Dichterin über Vergänglichkeit entlässt die Herausgeberin den Leser aus dieser Anthologie: "hab keine sieben Jahre mehr / für eine neue Jungfernhaut / kann nicht mehr warten / bin zu alt komm her." Und mit einem Kehraustanz endet die Sammlung: "heute am dritten verschneiten Dienstag im Oktober / bin ich neu geboren / ... du komm du / komm wir tanzen / ich liebe dich doch." Die Gedichte lesen sich wie eine einzige große Ode an die vitale Liebe und erscheinen zur rechten Zeit, als Geschenk der Herausgeberin und des Verlags an Helga M. Novak, die heute fünfundsiebzig wird.
WALTER HINCK
Helga M. Novak: "Liebesgedichte". Herausgegeben und mit einem Nachwort von Silke Scheuermann. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2010. 160 S., geb., 17,95 [Euro].
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