Motiv des Täters ausgeschlossen - unter jenes Dilemma, das Josef Isensee in einer rechtsphilosophischen Abhandlung auf den Punkt gebracht hat: "Das allgemeine Gesetz kann in seiner praktischen Konsequenz zu Härten im Einzelfall führen", es "oktroyiert sein Normalitätskonzept gleichermaßen normalen wie anormalen Sachverhalten".
Vom Rechtsfall, vom Gerichtsfall her bestimmt sich die Form dieses Romans. Der Bautechniker Forster, der vor sechzig Jahren als Flüchtling nach Bayern kam, verspricht seiner unter schwersten körperlichen Behinderungen leidenden, mit mehreren Suizidversuchen gescheiterten Frau, sie zu "erlösen" und mit ihr gemeinsam in den Tod zu gehen. Als er aber seine Frau in einem Waldstück erschossen hat und ihr entstelltes Gesicht sieht, nimmt ihm plötzlich der Schock den Mut, Hand an sich selbst zu legen. Er ist, so beginnt der Roman, nach der Untersuchungshaft und dem Schwurgerichtsprozess, der mit einem Freispruch unter Auflagen endete, in seine Wohnung zurückgekehrt und blickt nun auf die Geschichte seiner Ehe und den Prozess zurück. Seine Perspektive verschränkt sich mit der des Richters; in vierzig Kapiteln wechseln sich beide - von wenigen Ausnahmen abgesehen - regelmäßig als Erzähler ab. In dieser Wechselrede lässt sich das Gegenüber von Angeklagtem und Gerichtsinstitution wiedererkennen.
Barbara Bronnen hält sich fern von prätentiösem Erzählen, sie macht sich weder zur höchstrichterlichen Instanz, noch schiebt sie dem Ganzen eine bestimmte Doktrin unter. Den Richter erstaunt das uneingeschränkte Schuldgeständnis des Angeklagten, weil er Ausflüchte und Beschönigungen zu hören gewohnt ist. Forster erwartet keine Großzügigkeit vom Gericht, aber er wünscht, dass die Tat aus ihren besonderen Voraussetzungen verstanden wird, aus der langen schweren Zeit der Pflege, die er keinem anderen überlassen wollte, die ihn aber an den Rand seiner Kräfte gebracht hat, aus der ungebrochenen wechselseitigen Liebe der Partner, aus der wachsenden Verzweiflung seiner Frau, deren sämtliche Rückenwirbel von Osteoporose zerfressen sind. Kurz, der Bautechniker Forster entrollt ein Bild seiner eigenen seelischen Situation, das jedem Psychologen zur Ehre gereichen würde.
So entwirft Barbara Bronnen nicht nur die Figur einer individuellen, sondern zugleich exemplarischen Figur, die dem Gericht bereits die Grundlage für die Urteilsfindung bereitlegt, so dass die scharfen Einwände des Staatsanwalts überzogen wirken und der offizielle Verteidiger eher in eine Statistenrolle gedrängt ist. Noch einmal: Die Darstellung des schuldbewussten Angeklagten richtet sich nicht im schlauen Kalkül auf die Milde des Gerichts, sondern auf ein mitmenschliches Verstehen seines Handelns. Er verschweigt nicht einen Präzedenzfall seiner Tat. Im Kriegseinsatz hat er einem schwerstverwundeten Kameraden und Freund, dessen eine Gesichtshälfte durch eine Granate zerschossen war, den erflehten Gnadenschuss gegeben.
Der Richter selbst kennt die zerstörerische Macht des Leidens von seiner Frau, einer Anwältin, die den frühen Tod ihres gemeinsamen Sohns seelisch nicht hat bewältigen können, keinen Sinn mehr in der Ehe sah und ihn verlassen hat, in der Zeit der Gerichtsverhandlung aber wieder zur Gesprächspartnerin wird. Zur exemplarischen Figur wird dieser Richter dadurch, dass er das Dilemma der Rechtsprechung in diesem Fall klar erkennt: "Wenn er ihr nicht half, war er ein Unmensch. Wenn er ihr half, ebenso." So wird auch das Motto verständlich, das die Autorin für diesen Roman gewählt hat, ein Vers aus Brechts Parabelstück "Der kaukasische Kreidekreis": "Schrecklich ist die Verführung zur Güte."
Trotz des Freispruchs hält dieser Roman kein glückliches Ende bereit. Die Ehe des Richters lässt sich nicht wieder kitten. Forster begegnet einer Mauer der Abweisung, weil er "ein Tabu verletzt" hat. Nur wenige Freunde sind ihm geblieben. Immerhin redet seine Tochter wieder mit ihm, nimmt ihren Vorwurf, er habe die Mutter mit seinem Mitleid unterdrückt, halbwegs zurück. Unter den Romanen Barbara Bronnens ist dieser der gewichtigste. Er lässt uns ein Problem der Rechtsprechung in einer Zeit steigenden Lebensalters bewusster sehen. Die Dialoge, die Gefechte immer neuer Argumente und Gegenargumente, halten den Leser in Spannung. Literatur sei "ein Medium zur Erweiterung und Vertiefung unserer Wahrnehmung des Lebens", sagt Dieter Wellershoff. Vor solcher Erwartung besteht dieser Roman.
WALTER HINCK
Barbara Bronnen: "Liebe bis in den Tod". Roman. Arche Verlag, Zürich/Hamburg 2008. 176 S., geb., 18,- [Euro].
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