Letscho? Beirette? ABV? Da war doch mal was? - Es ist scheinbar vergangen, aber es lebt immer noch. Immer, wenn sich zwei "gelernte DDR-Bürger" über ihre Vergangenheit unterhalten und selbst im heute normalen Leben der neuen Bundesländer, tauchen sie wieder auf: Die Begriffe des DDR-Alltags, immer noch wie selbstverständlich und mit Erinnerungen beladen. Um dem Abhilfe zu schaffen, ist dieses Nachschlagewerk entstanden, wurden vom Autor Begriffe aus möglichst vielen Bereichen des DDR-Lebens zusammengetragen und "übersetzt": aus dem Alltag, den Geschäften, der Technik, der Produktion, dem gesellschaftlichen Leben, der Politik, dem Militär, dem Bereich der SED und der sogennanten "Massenorganisationen."
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2000Kannitverstan
Wundersame Sprache der DDR
STEFAN SOMMER: Lexikon des DDR- Alltags. Von „Altstoffsammlung” bis „Zirkel schreibender Arbeiter”. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1999. 375 Seiten, 29,80 Mark.
Es gibt ja nicht nur den Broiler und die Sättigungsbeilage. Über diese eindrucksvollen Wortschöpfungen der einstigen DDR haben die Westdeutschen bei der Entdeckung der zweiten deutschen Sprache schon vor zehn Jahren gejuxt. Aber wer weiß schon hüben, was die Brüder und Schwestern unter „Eckbau” (Schwarzarbeit), „Galerie der Freundschaft” (Kunstausstellung der Kinder-Massenorganisation „Pioniere”) oder unter „Kumpeltod” (steuerfreier Branntwein für Bergleute) verstanden haben – und wohl zumeist auch noch verstehen?
Zu fragen, ob das überhaupt jemand wissen will, klingt ketzerisch, aber das Interesse der Westdeutschen an allem, was mit „drüben” zusammenhängt, hält sich nun mal sehr in Grenzen. Insofern richtet sich das opulent geratene Lexikon des DDR-Alltags mit seinen knapp 1100 Stichwörtern an eine interessierte Minderheit, die hier eine Menge schöner Entdeckungen machen kann. Der Autor ist ein in Erfurt geborener Diplomingenieur für Verfahrenstechnik. In DDR-typischer Gründlichkeit hat Stefan Sommer, der auch schon mal im Satireblatt „Eulenspiegel” schrieb, Begriffe zusammengetragen, über die der Westler staunt und die dem „Dabeigewesenen” (Sommer) Déjà-vu-Erlebnisse bescheren. Apropos Broiler: Das Grillgeflügel hatte, wie wir lesen, ein „Rohgewicht von circa 1,2 Kilogramm” und war um die Hälfte schwerer als ein Grillhähnchen. Im „nichtsozialistischen Weltsystem” (NSW) war auch unbekannt, dass der junge DDR-Bürger statt einer Fahrerlaubnis eine „Fleppe” bekam, dass „Nautik” eine gefragte Seifenserie und „Kina” eine Säuglings-Fertignahrung war.
Das Lexikon beschränkt sich nicht auf derlei Kuriosa und die DDR-spezifische Abkürzungswut (besonders hübsch: „Frösi” für die Zeitschrift „Fröhlich sein und singen”). Es enthält auch Buch- und Filmtitel, Slogans („Wo ein Genosse ist, da ist auch die Partei”) sowie Kurz-Biographien – vom Schauspieler Manfred Krug bis zum Sportreporter Heinz Florian Oertel, dessen in der DDR geheimgehaltene Promotionsarbeit freilich schamhaft verschwiegen wird. Das eindrucksvolle Thema: „Untersuchungen zu den für die Tätigkeit als sprechender Sportreporter im Rundfunk und Fernsehen der DDR notwendigen speziellen Tätigkeits-Qualitäten und Persönlichkeits-Eigenschaften. ”
RALF HUSEMANN
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Wundersame Sprache der DDR
STEFAN SOMMER: Lexikon des DDR- Alltags. Von „Altstoffsammlung” bis „Zirkel schreibender Arbeiter”. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1999. 375 Seiten, 29,80 Mark.
Es gibt ja nicht nur den Broiler und die Sättigungsbeilage. Über diese eindrucksvollen Wortschöpfungen der einstigen DDR haben die Westdeutschen bei der Entdeckung der zweiten deutschen Sprache schon vor zehn Jahren gejuxt. Aber wer weiß schon hüben, was die Brüder und Schwestern unter „Eckbau” (Schwarzarbeit), „Galerie der Freundschaft” (Kunstausstellung der Kinder-Massenorganisation „Pioniere”) oder unter „Kumpeltod” (steuerfreier Branntwein für Bergleute) verstanden haben – und wohl zumeist auch noch verstehen?
Zu fragen, ob das überhaupt jemand wissen will, klingt ketzerisch, aber das Interesse der Westdeutschen an allem, was mit „drüben” zusammenhängt, hält sich nun mal sehr in Grenzen. Insofern richtet sich das opulent geratene Lexikon des DDR-Alltags mit seinen knapp 1100 Stichwörtern an eine interessierte Minderheit, die hier eine Menge schöner Entdeckungen machen kann. Der Autor ist ein in Erfurt geborener Diplomingenieur für Verfahrenstechnik. In DDR-typischer Gründlichkeit hat Stefan Sommer, der auch schon mal im Satireblatt „Eulenspiegel” schrieb, Begriffe zusammengetragen, über die der Westler staunt und die dem „Dabeigewesenen” (Sommer) Déjà-vu-Erlebnisse bescheren. Apropos Broiler: Das Grillgeflügel hatte, wie wir lesen, ein „Rohgewicht von circa 1,2 Kilogramm” und war um die Hälfte schwerer als ein Grillhähnchen. Im „nichtsozialistischen Weltsystem” (NSW) war auch unbekannt, dass der junge DDR-Bürger statt einer Fahrerlaubnis eine „Fleppe” bekam, dass „Nautik” eine gefragte Seifenserie und „Kina” eine Säuglings-Fertignahrung war.
Das Lexikon beschränkt sich nicht auf derlei Kuriosa und die DDR-spezifische Abkürzungswut (besonders hübsch: „Frösi” für die Zeitschrift „Fröhlich sein und singen”). Es enthält auch Buch- und Filmtitel, Slogans („Wo ein Genosse ist, da ist auch die Partei”) sowie Kurz-Biographien – vom Schauspieler Manfred Krug bis zum Sportreporter Heinz Florian Oertel, dessen in der DDR geheimgehaltene Promotionsarbeit freilich schamhaft verschwiegen wird. Das eindrucksvolle Thema: „Untersuchungen zu den für die Tätigkeit als sprechender Sportreporter im Rundfunk und Fernsehen der DDR notwendigen speziellen Tätigkeits-Qualitäten und Persönlichkeits-Eigenschaften. ”
RALF HUSEMANN
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.12.1999Schlüsselkinder, Hortkinder
Viermal Berlin: Im Lexikon des DDR-Alltags geblättert
Im "Lexikon des DDR-Alltags" ist der Name Berlin viermal genannt. In Zusammensetzungen wie "Berliner Festtage" und "Berliner Rundfunk". In der DDR war Berlin nicht einfach Berlin, sondern "Hauptstadt der DDR", im Volksmund Ost-Berlin. Der Titel war von Bedeutung, denn wenn in Berlin gebaut wurde, baute die ganze Republik. Und die ganze Republik wiederum fuhr nach Berlin, um Dinge einzukaufen, die es zu Hause nicht gab, "wie H-Milch oder Bettwäsche". Allerdings durfte nicht jeder in Berlin arbeiten und schon gar nicht einkaufen. "Berlin-Verbot" heißt das Stichwort im Lexikon. Ein Berlin-Verbot konnte die Staatssicherheit aussprechen, aber auch Gerichte konnten das. "Menschen mit Berlin-Verbot wurde in der Regel der Personalausweis entzogen, sie erhielten ein gesondertes Ausweispapier und mußten sich regelmäßig in ihrem Wohnort bei der Polizei melden."
Berliner Mauer hingegen ist kein Stichwort, es war im DDR-Alltag ohne Bedeutung. Auch Mauer steht nicht drin. Wohl aber "antiimperialistischer Schutzwall". Zwischen "Anschnitt" und "Arbeiterveteran". Arbeiterveteran erklärt sich, aber Anschnitt? Gemeint ist der Tag im Leben eines Wehrpflichtigen, an dem er sein Bandmaß anschnitt, das die letzten 150 Tage beim Militär zählte.
Der Sozialismus kommt siebenmal vor - von "sozialistischer Menschengemeinschaft" bis "sozialistisches Lager", die umgangssprachliche Wendung für die offizielle "sozialistische Staatengemeinschaft". "Sozialistisches Lager" kam hin und wieder auch mal in der Aktuellen Kamera vor, was eigentlich nicht sein durfte. Ach ja, "Aktuelle Kamera". Steht natürlich drin. "Die Aufbereitung der Nachrichten aus Adlershof erfolgte stets nach diesem Schema: Erfolge der eigenen Werktätigen, wichtige Taten und Beschlüsse von Partei und Regierung, Berichte von Besuchen der Politbüromitglieder im Ausland oder in DDR-Betrieben, sollte danach noch etwas Zeit sein: Misserfolge der Kapitalisten." Ungeschlagen sind in diesem Buch die sechzehn Stichworte, die mit "Pionier" beginnen. Gerade wurde am Montag der "Pioniergeburtstag" vergessen. Noch vor zehn Jahren wurde er gefeiert und damit genau 41 Jahre lang, denn am 13. Dezember 1948 war die "Pionierorganisation" gegründet worden.
All die Wörter mit "Pionier" fallen dem gewesenen DDR-Bürger möglicherweise noch ein. Aber weiß noch jemand, was ein "Schlüsselkind" war? Das Gegenstück zum Hortkind. Das Hortkind wurde nach der Schule weiter in der Schule betreut, während Mutter und Vater arbeiteten. Das Schlüsselkind hingegen durfte nach der Schule nach Hause, obwohl Vater und Mutter noch arbeiteten. Es hatte einen Schlüssel für die Wohnung, meist um den Hals, um ihn nicht zu verlieren.
Dass die "Schlagersüßtafel" drin ist, hat mit ihrer Beliebtheit bis heute zu tun. Auch "Schnitzler, Karl-Eduard" ist erwartungsgemäß zu finden. Aber "Schnittlauch"? Wohl nur wegen des Witzes, dass Polizisten Schnittlauch genannt wurden: "Sind grün und treten immer im Bündel auf."
Ist in diesem Lexikon wirklich an alles gedacht? Offenbar. Das Auto aus sowjetischer Produktion Saporoshez steht tatsächlich mit seinem treffenden Spitznamen "Zappelfrosch" drin. Und "Streichbeene", der berlinische Ausdruck für Zündhölzer. Sogar die Fernsehserie "Aber, Vati!" wird erwähnt, die die Bild-Zeitung gerade in ihre Schlagzeile brachte, als sie über den Kreislaufkollaps des Schauspielers Erik S. Klein berichtete. Klein war damals der Vati. Jedoch: Bärenfotze! Also Bärenfotze steht bestimmt nicht drin. Damit war die Pelzmütze gemeint, die die Armeeangehörigen im Winter zu tragen hatten. Irrtum. Seite 37. "Mit der Bärenfotze wurden Feldübungen und alltäglicher Dienst im Winter genauso absolviert wie Ausgänge und Urlaubsreisen. Dementsprechend wirkte sie meist recht gebraucht, war häufig deformiert und erinnerte eher an das Leiden der sowjetischen Soldaten in der DDR."
FRANK PERGANDE.
Stefan Sommer: "Lexikon des DDR-Alltags", Verlag Schwarzkopf und Schwarzkopf, 352 Seiten, viele Abbildungen, 29,80 Mark
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viermal Berlin: Im Lexikon des DDR-Alltags geblättert
Im "Lexikon des DDR-Alltags" ist der Name Berlin viermal genannt. In Zusammensetzungen wie "Berliner Festtage" und "Berliner Rundfunk". In der DDR war Berlin nicht einfach Berlin, sondern "Hauptstadt der DDR", im Volksmund Ost-Berlin. Der Titel war von Bedeutung, denn wenn in Berlin gebaut wurde, baute die ganze Republik. Und die ganze Republik wiederum fuhr nach Berlin, um Dinge einzukaufen, die es zu Hause nicht gab, "wie H-Milch oder Bettwäsche". Allerdings durfte nicht jeder in Berlin arbeiten und schon gar nicht einkaufen. "Berlin-Verbot" heißt das Stichwort im Lexikon. Ein Berlin-Verbot konnte die Staatssicherheit aussprechen, aber auch Gerichte konnten das. "Menschen mit Berlin-Verbot wurde in der Regel der Personalausweis entzogen, sie erhielten ein gesondertes Ausweispapier und mußten sich regelmäßig in ihrem Wohnort bei der Polizei melden."
Berliner Mauer hingegen ist kein Stichwort, es war im DDR-Alltag ohne Bedeutung. Auch Mauer steht nicht drin. Wohl aber "antiimperialistischer Schutzwall". Zwischen "Anschnitt" und "Arbeiterveteran". Arbeiterveteran erklärt sich, aber Anschnitt? Gemeint ist der Tag im Leben eines Wehrpflichtigen, an dem er sein Bandmaß anschnitt, das die letzten 150 Tage beim Militär zählte.
Der Sozialismus kommt siebenmal vor - von "sozialistischer Menschengemeinschaft" bis "sozialistisches Lager", die umgangssprachliche Wendung für die offizielle "sozialistische Staatengemeinschaft". "Sozialistisches Lager" kam hin und wieder auch mal in der Aktuellen Kamera vor, was eigentlich nicht sein durfte. Ach ja, "Aktuelle Kamera". Steht natürlich drin. "Die Aufbereitung der Nachrichten aus Adlershof erfolgte stets nach diesem Schema: Erfolge der eigenen Werktätigen, wichtige Taten und Beschlüsse von Partei und Regierung, Berichte von Besuchen der Politbüromitglieder im Ausland oder in DDR-Betrieben, sollte danach noch etwas Zeit sein: Misserfolge der Kapitalisten." Ungeschlagen sind in diesem Buch die sechzehn Stichworte, die mit "Pionier" beginnen. Gerade wurde am Montag der "Pioniergeburtstag" vergessen. Noch vor zehn Jahren wurde er gefeiert und damit genau 41 Jahre lang, denn am 13. Dezember 1948 war die "Pionierorganisation" gegründet worden.
All die Wörter mit "Pionier" fallen dem gewesenen DDR-Bürger möglicherweise noch ein. Aber weiß noch jemand, was ein "Schlüsselkind" war? Das Gegenstück zum Hortkind. Das Hortkind wurde nach der Schule weiter in der Schule betreut, während Mutter und Vater arbeiteten. Das Schlüsselkind hingegen durfte nach der Schule nach Hause, obwohl Vater und Mutter noch arbeiteten. Es hatte einen Schlüssel für die Wohnung, meist um den Hals, um ihn nicht zu verlieren.
Dass die "Schlagersüßtafel" drin ist, hat mit ihrer Beliebtheit bis heute zu tun. Auch "Schnitzler, Karl-Eduard" ist erwartungsgemäß zu finden. Aber "Schnittlauch"? Wohl nur wegen des Witzes, dass Polizisten Schnittlauch genannt wurden: "Sind grün und treten immer im Bündel auf."
Ist in diesem Lexikon wirklich an alles gedacht? Offenbar. Das Auto aus sowjetischer Produktion Saporoshez steht tatsächlich mit seinem treffenden Spitznamen "Zappelfrosch" drin. Und "Streichbeene", der berlinische Ausdruck für Zündhölzer. Sogar die Fernsehserie "Aber, Vati!" wird erwähnt, die die Bild-Zeitung gerade in ihre Schlagzeile brachte, als sie über den Kreislaufkollaps des Schauspielers Erik S. Klein berichtete. Klein war damals der Vati. Jedoch: Bärenfotze! Also Bärenfotze steht bestimmt nicht drin. Damit war die Pelzmütze gemeint, die die Armeeangehörigen im Winter zu tragen hatten. Irrtum. Seite 37. "Mit der Bärenfotze wurden Feldübungen und alltäglicher Dienst im Winter genauso absolviert wie Ausgänge und Urlaubsreisen. Dementsprechend wirkte sie meist recht gebraucht, war häufig deformiert und erinnerte eher an das Leiden der sowjetischen Soldaten in der DDR."
FRANK PERGANDE.
Stefan Sommer: "Lexikon des DDR-Alltags", Verlag Schwarzkopf und Schwarzkopf, 352 Seiten, viele Abbildungen, 29,80 Mark
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main