konterkariert.
In "Friedrich Hölderlin, überarbeitet" mischt Ulrike Almut Sandig Zeilen aus dem im Jahr 1800 verfassten Hölderlin-Werk "Wie wenn am Feiertage" auf, indem sie in den ersten drei Strophen jede zweite Zeile des Dichters durch eine eigene ersetzt. Der Hymnus auf eine nach nächtlichem Unwetter "mit Waffenklang" wiedererwachende Natur ("Die Allerschaffende, wieder - erfrägst du sie?" ist die letzte zitierte Zeile) wird durchsetzt mit ihrer Misshandlung, mit Grausamkeiten der Schafschur. Kleinste Verschiebungen von "schläft" zu "schlägt", von "erfrägst" zu "erträgst" verweben die Zeilen der Gegenwart mit den jahrhundertealten.
Zuletzt wird "Friedrich" mehrfach gedrängt, "leuchtende Schafe" zu sagen, und schließlich angewiesen einzuschlafen: eine lyrische Frechheit, die in der Video-Umsetzung des Gedichts noch eine Fortsetzung findet. Hier werden die Zeilen Hölderlins von einer künstlichen Stimme gesprochen, die naturgemäß nicht wissen kann, was sie da sagt. Weltfremd, verloren, verwirrt wirken die klassischen Zeilen in zufälliger Betonung. Kein Wunder, dass die Dichterin der Ergänzungen, der Überschreibungen in diesem Dialog ihr Gegenüber gewissermaßen bei der Hand nehmen muss, ihm ansagt, was zu tun ist.
"Zippelonika" heißt ein erster Zyklus aus zwölf Gedichten in "Leuchtende Schafe". Hier wird der alte Kinderreim über die Frau "mit Augen wie Kakao", die "dreimal hinterm Mond" wohnt, zum Ausgangspunkt kindlicher Notate aus dem Leben mit einer offenbar alkoholkranken "Losermama", die "hin und wieder ihr Kind verkloppte": "an schlechten Tagen ist Zippelonika ein Zeppelin / so menschenleer wie ihr eigener Hangar", heißt es einmal. "Wo tat's denn weh, als Zippelonika Kind war", fragt ein paar Seiten später ein "Choral" überschriebenes Gedicht, das den Hallraum der Mutter-Tochter-Konstellation um eine Generation erweitert. Auch hier steht der unbekümmerte Klang der Zeilen in krassem Kontrast zu dem Kummer, dem Ausgeliefertsein des lyrischen Ichs.
Wie unterscheiden wir zwischen Hören und Verstehen? In ihren "Sieben Marienliedern mit Hyäne" schließt Ulrike Almut Sandig eine um 1420 geschnitzte Muttergottes aus Lindenholz vom Salzburger Kapuzinerberg mit einer Hyäne und Erinnerungen an eine - wieder diese kleinsten Verschiebungen - Hélène kurz. Die Lieder tragen sexuelle Anspielungen und haben zugleich etwas Uneingelöstes, die Besungenen etwas Unbeholfenes: "gleich muss ich gehen, sagen wir / beide im selben Moment".
Selbst die Wände einer barocken Schlosskapelle im Sächsischen bringt Ulrike Almut Sandig zum Singen: "ich hab so viele Wörter in mir", setzen die drei Gedichte "an einem besucherarmen Tag im 21. Jahrhundert" an, der Zerfall, das Leben in den Mauern, dazu ein distanzierter Blick auf die Gottheit, der zu Ehren die Kirche einst erbaut wurde, sind ihre Themen. Walther Ruttmanns dokumentarischer Stummfilm "Berlin - Sinfonie einer Großstadt" aus dem Jahr 1927 wird bedichtet, Zeilen Wilhelm Lehmanns werden mit einer Sprechsoftware kurzgeschlossen, die Zeitlosigkeit lyrischer Weltaneignung ebenso ausgestellt wie ihre Zeitgebundenheit, ihre Vergänglichkeit.
Die Zeitgebundenheit von Dichtung beschäftigte Ulrike Almut Sandig schon lange. Noch als Studentin hatte sie mit zwei Begleiterinnen Plakate mit Gedichten auf Leipziger Zäune und Masten geklebt, der Witterung ebenso ausgesetzt wie dem Zugriff empörter Bürger oder - zunehmend - interessierter Sammler. Für eine Neuauflage ihres Debütbands "Zunder", 2005 in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung veröffentlicht, hatte die Dichterin vier Jahre später, wie sie Mitte September in der Reihe "Werkseinstellungen" des Hessischen Literaturforums in Frankfurt erzählte, einige Texte umgeschrieben, weil sie ihr inzwischen "zu ungenau" waren - "in freundschaftlichem Einverständnis mit der Autorin, die ich einmal war".
Diese Leichtigkeit trägt auch die Gedichte, die "Leuchtende Schafe" versammelt, bei aller Spannweite, bei allem Gewicht der Themen, die sie berühren. Es liegt ein Zauber in ihnen, ein Gegenzauber vielleicht. Sprachvertrauen. Eine im Buch nicht wiedergegebene Fassung des alten Kinderreims mit der "Zipp Zippelipp Zippelonika" endet mit einem Versprechen: "Wer mir das nachsagen kann", heißt es dort, "ist frei." Ulrike Almut Sandigs Dichtkunst schenkt ihren Lesern Freiheit. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Ulrike Almut Sandig: "Leuchtende Schafe". Gedichte.
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2022. 112 S., geb., 26,- Euro.
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