Gesellschaft mit Jahrbuch gibt es nur in Amerika. Vor vierzig Jahren haben die Emigranten Gottfried Felix Merkel und Guy Stern die Lessing Society in Cincinnati, Ohio, gegründet, der Ruth Klüger oder Wilfried Barner vorstanden.
Das zugehörige Jahrbuch zur Lessing-Zeit hat sich über die Jahrzehnte hinweg gehalten. Die Krise, die sich in den letzten Folgen mit einem immer kleiner werdenden Rezensionsteil abzeichnete, scheint inzwischen überwunden. Der nun erschienene 36. Band erreicht nicht nur wieder die gewohnte Qualität, sondern beweist neuen Mut zur historischen Forschung. Mit methodischer Rückständigkeit hat das nichts zu tun, wohl aber mit der gegenüber den Weimarer Klassikern weitaus größeren Zahl offener Fragen. Viele Sachverhalte, für die man bei Goethe oder Schiller mit Selbstverständlichkeit auf den Bienenfleiß von Editoren und Literaturdetektiven rechnen könnte, sind im Falle Lessings und seiner Freunde nicht eben leicht aufklärbar. So verspricht der jüngste Band manche Entdeckung - nicht nur über Lessings "Laookon", "Literaturbriefe" und Reimarus-Fragmente, sondern auch über Anna Louise Karsch, Jakob Michael Reinhold Lenz oder Christian Ludwig Liscow.
Wohl am spannendsten ist die Auflösung eines seltsamen Rätsels: Es handelt von der Vision eines jüdischen Exils in den Gründungsstaaten der Neuen Welt. 1783 erscheint in der Zeitschrift "Deutsches Museum" das anonyme "Schreiben eines deutschen Juden, an den Präsidenten des Kongresses der Vereinigten Staaten von Amerika". In diesem hier erneut abgedruckten offenen Brief bittet der Verfasser darum, zweitausend jüdischen Familien, die unter den bedrückenden Verhältnissen in Europa leiden, vorübergehend Zuflucht zu gewähren. Schließlich würden mindestens noch hundert Jahre vergehen, bis die Bevölkerung der dreizehn Neuenglandstaaten so stark angewachsen sei, um die verfügbaren großen Weiten des Landes urbar zu machen. Bis dahin solle man den einwandernden Juden die Chance geben, "auf ihre Kosten Kolonien anzulegen, Ackerbau, Handel, Künste und Wissenschaften treiben zu dürfen".
Die Idee erinnert fatal an die Suche nach territorialen Alternativen zu Palästina, die der Staatsgründung Israels vorausging. Doch weder 1783 noch 1787 - anläßlich einer zweiten, mit dem Namen Moses Mendelssohns verbundenen Publikation des "Schreibens" - führte diese Idee zum Erfolg. Doch wer kam auf den ingeniösen Einfall? Es war kein Jude, wie Christoph E. Schweitzer jetzt nachweist, sondern der Aufklärer Leopold Friedrich Günther Goeckingk. Wie sein Gefährte Christian Wilhelm von Dohm, Verfasser der Schrift "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" (1781), wünschte er den deutschen Juden eine bessere Zukunft. Daß sein Vorschlag nun unter dem Dach des nach Amerika exilierten Lessing aufgedeckt und gewürdigt wird, ist eine schöne Ironie der Geschichte.
ALEXANDER KOSENINA.
Lessing Yearbook / Jahrbuch Bd. 36, 2004/2005. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 285 S., geb., 24,- [Euro].
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