der Gruppe zurückgehen, ist wohl doch nur Kennern der patapyhsischen und oulipotischen Unternehmungen bekannt.
Wie Queneau zieht es den ausgebildeten Chemieingenieur Le Lionnais zur Mathematik, früh auch zur Kunst, er streift Dada, spielt Schach mit seinem Freund Duchamp und tritt in den dreißiger Jahren in die Kommunistische Partei ein. 1942 schließt er sich einem Pariser Résistance-Netzwerk an, wird zwei Jahre später von den Deutschen verhaftet, nach Verhör und Tortur zuerst nach Dachau, dann ins Außenlager Mittelbau-Dora gebracht, wo man die Häftlinge in unterirdischen Stollen bei der Arbeit an V2-Raketen verschleißt. Nach der Auflösung des Lagers gelingt ihm auf einem der sogenannten Todesmärsche die Flucht.
Nach dem Krieg wird Le Lionnais wissenschaftlicher Berater der staatlichen Museen, leitet später in der Unesco eine Abteilung für wissenschaftlichen Unterricht und Wissenschaftspopularisierung und ruft eine langlebige Wissenschaftssendung im französischen Fernsehen ins Leben. Aber publiziert hat er an eigenen Büchern fast nichts, regte dafür viele an und fungierte oft als Herausgeber, darunter eines 1948 erschienenen und mit prominenten Beiträgern - von den Mathematikern der Bourbaki-Gruppe bis zu Queneau - bestrittenen Bands über "Die großen Strömungen des mathematischen Denkens".
Zwei Jahre zuvor war in einer Zeitschrift ein kurzer Text von ihm erschienen, der seine einzige öffentliche Äußerung zum Überleben im Lager blieb: "La peinture à Dora". Er liegt nun zum ersten Mal auf Deutsch vor, vom Übersetzer Jürgen Ritte zudem mit einem exzellenten biographischen Nachwort versehen. Die Schrecken des Lagers blitzen in ihm nur da und dort in lakonisch distanzierten Bemerkungen auf, was ihre Wirkung nicht mindert. Wovon der Text aber hauptsächlich handelt, das ist eine der intellektuell-imaginativen Übungen, die es ihm erlaubten, von der Realität des Lagers nicht erdrückt zu werden. Dazu gehörte insbesondere, so erzählt Le Lionnais, einem Mitgefangenen bekannte Kunstwerke so eindringlich und genau zu beschreiben, dass der Zuhörer meinte, sie vor sich sehen zu können. Woraus dann sogar ein Spiel in Le Lionnais' Kopf wird, Elemente eines Bildes in ein anderes zu übertragen oder eigene Bilder zu entwerfen, die seiner mathematischen Neigung entsprechend schnell zu Kompositionen werden, die auch das innere Auge überfordert haben dürften.
Das Bändchen ist Teil der ersten Staffel einer von Jürgen Ritte edierten neuen Reihe "Oulipo & Co". Erschienen sind in ihr auch Harry Mathews' "Erinnerungen an Georges Perec", eine lose Folge von knapp gefassten Erinnerungen an den 1982 verstorbenen Freund, die die Vorlage von Perecs "Ich erinnere mich" aufnimmt (die ihrerseits von Joe Brainard angeregt wurde). Außerdem ist Mathews - vier Jahre nach Perec, nämlich 1973 unter die Oulipoten aufgenommen - auch mit einer Übersetzung seiner "Singular Pleasures" vertreten: knapp beschriebene Szenen masturbatorischen Lustgewinns, die sich nicht zuletzt oulipotischem Sinn für extravagante Variationen verdanken. Und schließlich ist mit Félix Fénéon ein Autor dabei, dessen Witz und legendäre Lakonik die Oulipoten beeindruckte, zumal in seinen in drei Zeilen gegossenen Vermischten Meldungen, den "Nouvelles en trois lignes", die Fénéon 1906 für die Tageszeitung "Le Matin" schrieb. Vollständig auf Deutsch erschienen sind diese erst nach Féneóns Tod 1944 richtig zu Ehren gelangten kaustischen Mikrogeschichten vor fünfundzwanzig Jahren schon einmal in Der Anderen Bibliothek. Für den Auftakt von "Oulipo & Co" hat Jürgen Ritte nun eine schmale Auswahl übersetzt. Hätte Oulipo so hübsch benannte Ehrenränge zu vergeben, wie das Collège de Pataphysique sie vergibt, aus dem die Werkstatt hervorging, Jürgen Ritte hätte einen verdient.
HELMUT MAYER
François Le Lionnais:
"Leonardo in Dora".
Aus dem Französischen von Jürgen Ritte. Diaphanes Verlag, Zürich 2018. 47 S., br., 10,- [Euro].
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