wundersame Reisegeschichte, die Judith Kuckart uns in ihrem neuen Roman erzählt, ist voll solcher Irritationen, denn durch Vorwegnahme und Rückschau, durch Spiegelung und Projektion revidiert sie immer wieder, was wir zu sehen und verstehen glauben, und zögert bis zuletzt, uns einen Panoramablick auf das Geschehen zu eröffnen. Schon die einfachsten Begegnungen unterwegs stellen sich im Rückspiegel oft seltsam dar: "Eine Frau steht am Straßenrand und hält eine Ziege fest. Lena fährt langsam vorbei. Im Rückspiegel, scheint ihr, schaut die Frau wie eine Ziege und die Ziege wie eine Frau hinter dem Auto aus dem Westen her, das noch nicht geklaut worden ist." Erst recht aber die wahre Distanz oder Nähe dessen, was rückblickend erscheint, bleibt irritierend ungewiß: "Objects in mirror are closer than they appear", stand warnend auf dem Rückspiegel des amerikanischen Mietwagens, mit dem die Titelfigur Lena einst durch Nevada fuhr. Jetzt folgen wir ihrer Autofahrt durch Polen auf dem Rückweg nach Berlin und fragen uns fortwährend, ob ihr Orientierungs- und vor allem Richtungssinn solche Warnhinweise überhaupt registriert.
Magdalena Krings ist knapp vierzigjährig und stürzt sich aus den Sicherungsanlagen des Berufs ins Abenteuer einer ungewissen Zukunft, in der alles aufs schönste möglich scheint. Auf offener Bühne kündigt sie ihr erfolgreiches Engagement beim Theater, weil sie von Eindrücken, die ihr nicht selbst gehören, nicht leben will. Der Tod der Mutter führt sie dann in jene westdeutsche Kleinstadt, wo sie aufgewachsen ist. Unversehens gerät Lena sehr bald in die Bahnen eines Lebens, das sie hinter sich zu haben glaubte, und doch nimmt sie die alten Spuren jetzt teils zögernd, teils neugierig wieder auf. Besonders die unerwartete Begegnung mit ihrer alten Jugendflamme namens Ludwig bietet einige Gelegenheit zu nachholendem Gefühlsvollzug; das Wort "Liebe" aber wird gemieden, weil das so Bezeichnete angeblich meist in einer Dreizimmerwohnung endet.
Dazu soll es nicht kommen. Die Affäre mit einem jungen Mann, der Fußball spielt und nach dem Weichspüler seiner Mutter riecht, sowie das polnische Freundschaftsspiel der Fußballjugend geben ihr erneut Anlaß zum Aufbruch. Unter einem journalistischen Vorwand und mit dem Gaspedal ihren Gemütszustand regulierend, reist Lena dem Mannschaftsbus nach Oswiecim hinterher, dem "Kaff vor Rußland", wie die Spieler wissen, das zu deutsch Auschwitz heißt. Doch auch dort, wo das schlechte Gewissen eines Deutschen, wie es heißt, besser als der polnische Alltag funktioniert, trifft Lena unerwartet auf Bekanntes. Ihre Lebensgeschichte verschränkt sich zunehmend mit Erinnerungen an die Mutter und Eindrücken von deren Jugendliebe Dahlmann, der früher diese Kleinstadt als Sohn des Lageraufsehers kannte und sie jetzt nach langen Jahren wiedersieht. Das Fußballspiel in Auschwitz endet mit einem klaren Sieg der Polen sechs zu eins (auf Drängen des Trainers hat der polnische Torwart einen Ball als Friedenszeichen durchgelassen). Lenas Leben aber bleibt unentschieden und geht, wie sie es nennt, "in die Verlängerung".
Erzählt wird all dies nicht in klarer Überschau, sondern in ständigen Faltungen und Zeitsprüngen, die sich nicht leicht zu einem Bild zusammenfügen. Stärker noch als in "Der Bibliothekar", ihrem letzten Roman, bricht Kuckart den Erzählfluß in Erinnerungsfragmente, Ausschnitte, Rückblenden und sich überlagernde Momentaufnahmen. Trotz der schlichten, oft protokollhaft reduzierten Sätze bleibt man als Leser vielfach im Ungewissen, was genau geschieht und vor allem, wie man es zuordnen soll. Denn Lenas Erinnerung speist sich aus Erlebtem ebenso wie aus mittelbar Erfahrenem, sie nimmt Erzähltes wie Geträumtes auf und reflektiert Ersehntes. Diese Schichten durch Lektüre aufzuspüren ist streckenweise durchaus spannend, führt aber letztlich dazu, daß wir an der Kunstfertigkeit der Darstellung mehr Anteil nehmen als am Schicksal der Figuren, von denen sie uns eigentlich erzählt.
Zu reich ist die Fülle der Motive, zu viele Stränge laufen nebeneinander her, als daß sie sich verknüpfen ließen und wir an einem von ihnen überhaupt noch selbst anknüpfen möchten. Zumal der Roman eine Neigung zum Sentenzenhaften zeigt, die auch dadurch nicht erträglicher wird, daß Kleriker und Renegaten tragende Rollen übernehmen. "Schreiben hat mit Gott zu tun", lernen wir bei Gelegenheit, oder "Glaube ist eine Haltung". Dem mag man nicht widersprechen. Und wenn wir erfahren, "Wer erzählt, hat eine Frage", wissen wir, was uns hier fehlt: Dieser facettenreiche Roman macht nicht recht klar, welche Frage die Erzählerin hat. Die Rückblicke entlang der Reise, die sie bietet, allerdings sind fraglos schön.
TOBIAS DÖRING
Judith Kuckart: "Lenas Liebe". Roman. DuMont Verlag, Köln 2002. 303 S., geb., 22,90
.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main