wieder und wieder durchlaufen, sprachlich reizlos und auf einer erstaunlich schmalen Basis von Forschungsliteratur. Nun ist van Dülmen Historiker. Und durch die glanzlose Oberfläche eines offenbar rein kommerziellen Unternehmens schimmert durchaus ein eigenes Anliegen. Es nennt sich "kulturgeschichtlich", teils weil das zeitgemäß ist, teils um die Stoffballen von Salonkultur, Universitätsreform oder Judenemanzipation in den vorhandenen Regalfächern unterbringen zu können. Besser sollte es "individualisierungsgeschichtlich" heißen.
Der richtige und wichtige und kluge Grundgedanke dürfte folgender sein: Wenn Individualität überhaupt eine Geschichte hat, kann diese nur auf doppeltem Wege erfaßt werden. Zum einen müssen die Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer eigenen Lebensplanung und Lebensgestaltung rekonstruiert werden: Welche Wahl hatte jemand zu einer gewissen Zeit an einem gewissen Ort? Zum anderen gilt es, die Modelle zu untersuchen, die Tradition, Kunst, Religion und Philosophie für die Lebensführung anbieten: Welches Selbstverhältnis konnte jemand zu einer gewissen Zeit an einem gewissen Ort entwickeln? Da van Dülmen diesem auf Max Weber zurückgehenden Projekt im Prinzip zugehört, möchte er "die Lebenswelt der Romantiker aus dem soziokulturellen Kontext der Zeit" und "den Zusammenhang von Wissenschaft, Kunst und Religion aus den Lebensinteressen der Romantiker" begreifen.
Realhistorisch hebt van Dülmen hervor, daß die Romantiker in der Regel aus bürgerlichen Verhältnissen kamen, einen erfolgreichen und eher autoritären Vater hatten, während die Mütter eher eine geringe Rolle spielten; daß sie meist eine universitäre Ausbildung in Richtung auf einen bürgerlichen Beruf erhielten und erst während des Studiums ihr Studienziel änderten, wobei sie sich weiterhin von der Familie finanzieren ließen; daß Freundschaften und Geselligkeit und Briefwechsel für sie eine große Rolle spielten; daß sie zumal im zwischengeschlechtlichen Umgang unkonventionell waren - und daß viele von ihnen Professoren wurden.
Was dagegen die Selbstverhältnisse angeht, hat van Dülmen ein knappes, etwas oft wiederholtes Interpretament. Die Romantiker seien keine Reaktionäre, keine Nationalisten und keine christlichen Fundamentalisten gewesen. Wenn überhaupt, hätten sie an den kosmopolitischen und liberalen Idealen der Französischen Revolution festgehalten. Im Grunde aber hätten sie sich nicht für Politik interessiert, sondern einzig für die Poetisierung des Lebens, für die Ästhetik der Existenz. Die Romantiker waren Kinder bürgerlicher Eliten, die auf Selbstverwirklichung aus waren und später in einer Art Bourdieuschem Kapitaltransfer diese Sorge um sich selbst zum Beruf machen konnten.
Teils sind die Ergebnisse zu allgemein, teils zu spezifisch. Freundschaften und Briefwechsel spielen schon das ganze achtzehnte Jahrhundert über eine große Rolle. Und was hätten die Väter denn sonst sein sollen, wenn nicht überwiegend bürgerlich und autoritär? Umgekehrt fordert die Bestimmung der lebensgeschichtlichen Chancen den Vergleich. Die umständlich ermittelten Charakteristika hätten erst dann einen Erkenntniswert, wenn sich etwa bei den Klassikern und den Idealisten irgend etwas deutlich anders verhielte. Vor allem aber könnten Lebensgeschichte und Selbstverhältnis erst aufeinander bezogen werden, wenn der Ausdruck des Selbstverhältnisses eine eigenständige Untersuchung erführe. Für van Dülmen verlangt dagegen "die Einbindung der künstlerischen und wissenschaftlichen Werke in die Lebenswelt einer Generation den Verzicht auf scharfe Begriffe und Vorstellungen. Andernfalls würden zentrale Sachverhalte verzerrt." Statt sich anzusehen, was Literatur-, Kunst-, und Musikwissenschaft, Philosophie- und Theologiegeschichte ermittelt haben, redet er immer wieder vom Programm der Poetisierung der Existenz und gelegentlich auch von der Entdeckung der Nachtseite des Lebens. Daß Poetisierung und Nachtseite quer zueinander zu stehen scheinen, beunruhigt ihn nicht.
Wer so redet: "Die große Fähigkeit zur Selbstanalyse und seine prägnante Beschreibungskunst - er wollte stets mehr als Unterhaltung - machten Kleist zum Vertreter einer dichterischen Botschaft, die im Selbstmord endete", der hat in der Tat auf die Auseinandersetzung mit den Fachwissenschaften "bewußt verzichtet". Das Buch durchziehen Bemerkungen, daß es Freundschaften oder unsichere Berufsziele natürlich immer gegeben habe. Sicher, wenn man die Individualität genügend unscharf ansieht, dann hat sie keine Geschichte mehr: Schon Plato gibt Rechenschaft über seine Lebensführung. Nur folgt daraus eben, daß man genauer hinsehen müßte. Die Fähigkeit zur Selbstanalyse etwa dürften die Romantiker den protestantischen Praktiken der Gewissensprüfung verdanken. Da könnte man dann die religiöse Erziehung der Romantiker untersuchen - zumal der Fall Novalis wäre aufschlußreich - und umgekehrt die Transformation bekehrungsgeschichtlicher Topoi in autobiographische Erzählmodelle verfolgen. Auch das unterbleibt. Aber steckt im Gedanken, daß ein einziges Individuum die ganze Geschichte des Individuums umfassen könnte, nicht eine romantische Verabsolutierung des Ichs?
Richard van Dülmen: "Poesie des Lebens". Eine Kulturgeschichte der deutschen Romantik 1795-1820. Band 1: Lebenswelten. Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2002. V, 350 S., 120 S/W-Abb., 8 Farb-Abb. auf Tafeln, geb., 29,90 [Euro].
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