aufzählen.
Marino war eine epochale Gestalt des Barockjahrhunderts, bei lebenslanger Verfolgung durch Neider und durch die Inquisition und obwohl seine Dichtungen auch in ihrem künstlerischen Rang schon zu Lebzeiten nicht unumstritten waren. Seinem Nachruhm hat das wenig genützt. Lange galt Marino in der Literaturgeschichte als der bloß geistreichelnde Höfling, der in einer wirkungsversessenen, aber leerlaufenden Artistik die Anregungen der Renaissancedichtung in Versen vertan habe, eigentlich kein Dichter, bloß ein Rhetoriker der Poesie.
Diese Urteile, die in einem erstaunlichen Gegensatz zur überwältigenden Wirkung zu Lebzeiten standen, ließen sich umso schwieriger überprüfen, als bis heute weder eine kritische Ausgabe der Originaltexte existiert noch eine umfangreiche deutsche Übersetzung. Wenigstens dem zweiten Mangel hat jetzt eine elegante Neuausgabe abgeholfen. Der Romanist Rainer Stillers und die Kunsthistorikerin Christiane Kruse haben, unter Mitarbeit von Christiane Ott, eine 420 Seiten umfassende Auswahl aus Marinos bedeutendstem Werk vorgelegt, der "Galeria" von 1619. Gegliedert in die Abteilungen "Die Gemälde" und "Die Skulpturen", führt es durch Geschichte und Gegenwart der europäischen Kunst, in mehr als sechshundert Gedichten von etwas stereotypem Enthusiasmus und immenser Kennerschaft. Und was gibt es da nicht alles zu sehen: Götter, Helden und Heilige, Kampfszenen und Stillleben, Porträts und Selbstporträts, am Ende sogar das Porträt des freudig überraschten Dichters selbst.
Mit der literaturwissenschaftlichen Aufwertung der Rhetorik, die das Verständnis der Lyrik aus der Umklammerung durch einen trivialisierten "Erlebnis"-Begriff befreit hat, stand die Dichtung auch des Marinismus unbefangen zur Debatte. Und mit dem in jüngster Zeit wachsenden Interesse an den Beziehungen zwischen den Künsten und Medien rückt ein Werk wie dieses von der Peripherie der Literatur- und Kunstgeschichte wieder ins Zentrum. Verdientermaßen. Denn selten dürfte der Appetit der Poesie auf Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen so unersättlich und die theoretische Neugier auf ihr Verhältnis so lebhaft gewesen sein wie in Marinos Galerie. Was mit dem Fachbegriff "Ekphrasis" heißt, die Darstellung bildender Kunst in der Sprache, das hat in Marino einen Meister gefunden, im doppelten Sinne des glanzvoll Gelungenen und des mustergültig Lehrenden.
Die Ausgabe umfasst gut ein Drittel des Gesamttextes, im italienischen Original und einer geschmeidigen Prosaübersetzung, die durch kundige und angenehm lesbare Kommentare ergänzt wird. Die Leser werden es den Herausgebern danken. Denn auch wenn bei kompletter Lektüre noch immer einige Durststrecken zu überwinden sind, so liest sich diese Zusammenstellung doch wie das Best of eines intelligenten und überraschend witzigen Poeten, der ein so brillanter Kunstkenner wie theoretischer Kopf gewesen ist. An der Seite Marinos spaziert der Leser durch weitläufige Säle antiker, Renaissance- und Barockgemälde und Skulpturen, und die Sonette, Stanzen und Verse, in denen er die Ausstellung kommentiert, sind auch dort, wo es pathetisch werden soll, doch viel eher zum Plaudern geneigt.
Nicht nur die Wiederholung immer derselben witzigen Paradoxien ist unübersehbar, die einst ein Zeitalter bezaubert haben, sondern auch die Variationsbreite, mit der sie eingesetzt werden. Dass unter der Meisterhand Michelangelos der Stein fleischlicher werde als das Fleisch; dass sich das Original vor dem gelungenen Porträt fühlen müsse, als sei es selbst bloß das schwache Abbild; dass der Künstler dem toten Bild Leben einhauchen und das Leben im schönen Tod erstarren lasse: solche Denkfiguren spielt Marino mit beträchtlichem Scharfsinn durch - und manchmal mit einer unerwarteten Hingabe, die in Gedichten wie "Das grausame Bild", einem der umfangreichsten Texte der Sammlung, noch die Schmerzlust einer erschütternden Kunsterfahrung glaubhaft zu artikulieren vermag. Und wo er eben noch über das Fortleben der flüchtigen Wirklichkeit im toten Bild gescherzt hat, da lässt er mit der Klage des Bildhauers über den Tod seiner Tochter auch die Kunst an ihre Grenzen geraten: Ihr gilt das letzte Gedicht der Sammlung.
Was Marino jenseits allen eloquenten Spiels interessiert, ist das Verhältnis der Körper zur Kunst, der Figuren zu den Bildern, der mythologischen und religiösen Sujets zu ihren wechselnden Darstellungen. Immer von neuem wechselt er die Perspektiven, wird ein Thema in verschiedenen Bearbeitungen oder umgekehrt ein Werk in mehreren Texten umschritten. In den gelungensten Fällen ist das Ergebnis ein stereoskopischer Blick, der sich auf neue Weise seiner selbst bewusst wird. Darin liegt das zeitlose Vergnügen dieses Werks, das historisch so ferngerückt erscheint: Wer mit Marino durch die Galerie geht, und das ermöglicht diese schöne und kleinformatige Ausgabe ganz buchstäblich, der wird Zeuge eines epochalen Geschehens: Er erlebt die Entdeckung des offenen Kunstwerks.
HEINRICH DETERING.
Giambattista Marino: "La Galeria". Zweisprachige Auswahl. Ausgewählt und übersetzt von Christiane Kruse und Rainer Stillers. Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2009. 422 S., 35 Abb., geb., 24,- [Euro].
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