ihrer verpönten Tendenz, die Ereignisse vor allem aus der Sicht der führenden politischen und militärischen Akteure zu schildern, liegt auf der Hand. Sie wird hier stillschweigend als eine kaum noch zu diskutierende Prämisse der Sozialforschung betrachtet. Merkwürdigerweise bedient man sich aber einer schwer zugänglichen Terminologie, die diesen Arbeiten einen eigentümlich akademisch-elitären Charakter verleiht. Von den Doktoranden wird das schwere Geschütz ihres Fachjargons aufgefahren: Wortmonster wie Soziabilität, Funktionalisierung, Synchronie, Perzeptionsmuster, Dichotomie, Verortung und Veralltäglichung schwirren einem um die Ohren. Fast will es scheinen, als ob das überaus gelehrte Begriffsinstrumentarium eine exklusive Atmosphäre wie im Oberseminar schaffen solle, wo man im kleinen Kreis der Eingeweihten, der happy few, unter sich bleiben möchte.
Dabei sind die konkreten Forschungsergebnisse, die hier vorgelegt werden, bei aller Detailversessenheit oft beachtlich. Wenn man sich einmal mit dem Dornengestrüpp komplizierter Terminologie abgefunden hat, stößt man auf interessante Erkenntnisse. Von einem der Doktoranden wird zum Beispiel das legendäre "Augusterlebnis", jene hochgradige Massenhysterie beim Kriegsausbruch 1914, untersucht. Es stellt sich heraus, daß vor allem die großstädtische Bevölkerung davon ergriffen wurde. In Kleinstädten und auf dem Lande nahm man an dem fieberhaften Rausch weitaus weniger teil. Während die tausendköpfige Menge, die sich am 1. August vor dem Berliner Schloß eingefunden hatte, auf die Nachricht von der Mobilmachung spontan "Nun danket alle Gott!" anstimmte und dem Kaiser frenetische Ovationen bereitete, herrschte in den deutschen Dörfern beim Eintreffen der "Extrablätter" vielfach tiefe Bestürzung. Auf den Bauernhöfen hatte man sogleich die Folgen der Mobilmachung im Sinn: Wer sollte jetzt, wo die Söhne und die Knechte "zu den Fahnen eilen" mußten, die gerade beginnende Ernte einbringen? Es zeigt sich, daß eine solche "Banalisierung" historischer Ereignisse mitunter durchaus angebracht sein kann. Denn in der Tat wurde das überlieferte Bild vom "August 1914" bisher weitgehend von jenen jubelnden Massen geprägt, die ihre Strohhüte schwenkten und, wie Hitler vor der Münchner Feldherrnhalle, das Ende der Sinnleere ihres Lebens feierten.
Großmensur
Wie eine dieser Arbeiten eindringlich schildert, gerieten besonders die Korpsstudenten in den Strudel patriotischer Erregung. In den altertümlichen Universitätsstädten veranstalteten die "schlagenden Verbindungen" sogleich Fackelzüge, betranken sich in ihrer Kneipe noch einmal ausgiebig und schwadronierten vom Krieg als "der größten Mensur".
Sie glaubten allen Ernstes, sie könnten nun ihre Männlichkeitsrituale "auf dem Schlachtfeld" fortsetzen, und lechzten förmlich nach der "Feuertaufe". Liest man die von Völkerhaß und Chauvinismus strotzenden Reden, die damals von deutschen Universitätsrektoren beim Ausmarsch ihrer Studenten gehalten wurden, begegnet man einer grotesk antiquierten Sprache, die mit altphilologischem Pathos die in den Krieg ziehenden jungen Männer als "tapfere Römer und Griechen" feierte.
Ebenso wie in Großbritannien und Frankreich senkte sich die riesige Giftwolke der Kriegspropaganda über das Land. Sogar in den Feldpostbriefen herrschte oft ein verlogenes Zeitungsdeutsch. Wie die hier vorliegende Untersuchung des Briefverkehrs zwischen "Front und Heimat" zeigt, gab es dabei, nicht nur wegen der Zensur, mancherlei Tabus. Die "feldgrauen Helden" in den schlammigen Schützengräben wollten sich nicht allzusehr über ihr elendes Dasein beklagen. Man bediente sich in den Briefen deshalb eines forsch verdrängenden Jargons und versuchte, den grauenhaften Alltag möglichst zu verschweigen. Und die Frauen und Mädchen vom Lande oder aus den Arbeitervierteln, die ihnen antworteten, waren nur selten in der Lage, eine lebendige Korrespondenz zu führen. Mit Vorliebe benutzten sie vorgestanzte Floskeln, die den "Durchhaltewillen" stärken sollten. Denn immer wieder wurde den "Daheimgebliebenen" eingehämmert, sie dürften die Frontsoldaten nicht mit Lappalien wie der zunehmenden Lebensmittelknappheit behelligen.
Eine der originellsten Arbeiten des Bandes beschäftigt sich mit dem sogenannten "Hosentaschenkavalier". Die in Deutschland hergestellte "Hohner"-Mundharmonika, ein in der ganzen Welt geschätztes Spitzenfabrikat, wurde auf Umwegen über die Schweiz auch an die englische und die französische Armee geliefert - in riesigen Mengen, weil der "Tommy" und der "Poilu" auf das Musikinstrument des kleinen Mannes nicht verzichten wollten. Flotte oder sentimentale Melodien, bei Freund und Feind auf einer deutschen Mundharmonika gespielt, auch das gehörte zur Wirklichkeit des Ersten Weltkrieges. HENNING SCHLÜTER
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