Denezkina zur Buchmesse auftritt. (Warum ein so traditionsreicher Literaturverlag glaubt, damit bereits sein Soll zum deutsch-russischen Literaturaustausch erfüllt zu haben, ist allerdings eine Frage für sich.)
Irina Denezkina ist Jahrgang 1981 und studiert Journalismus in Petersburg. Zu ihrem Freundeskreis gehört die Punkgruppe "BANDerlogi", die gleich in der Titelerzählung zu Beginn des Bandes einen großen Auftritt hat. Ljapa, den Schlagzeuger, hat die Erzählerin in einem Chatroom im Internet kennengelernt und gleich virtuell geehelicht. Das bei der Partnerwahl vorgelegte Tempo scheint selbst den schnellsten Drummer zu überfordern, so daß die Erzählerin nach dem ersten realen Treffen vergebens auf weitere Annäherungsversuche ihres "Mannes" wartet und sich die Zeit mit Musikhören vertreiben muß: "Immer auf der Fluppe, ständig zugedröhnt, immer auf Trab, den ganzen Tag Party, die ganze Nacht wach. Die dicke Kohle ziehen. Alles verschleudern. Koksen, schnüffeln und sich nicht zu Tode süffeln." Allem savoir vivre zum Trotz muß das Mädchen schauen, wo es bleibt, zieht mit ihrer Freundin um die Häuser und findet sich plötzlich hin und her gerissen zwischen Niger, dem harten Hip-Hop-Jungen, und Denja, dem jungen Tschetschenien-Veteranen mit der Gitarre, der alle Männer für Nieten hält, die nicht im Krieg waren: "In seinen Augen lag der totale Null-Bock."
In Rückblenden erfahren wir noch von anderen früheren Lovern, die freilich inzwischen außer Konkurrenz laufen wie der Vorbildstudent Sacharow, der "alle möglichen Sokratiker" auswendig konnte. "Doch was wollte ich mit denen? Ich wollte Bier und Sex in unbegrenzten Mengen." Zum Glück findet jeder Topf einen Deckel, und die Geschichte endet schlicht mit einer sprachlosen Erzählerin - eine fremde Zunge in ihrem Mund sorgt für den recht unvermittelten Schluß der Story, die sonst sicher noch ausbaufähig gewesen wäre.
Andere Texte des Bandes, wie die fast hundert Seiten lange Geschichte "Song for Lovers", knüpfen da nahtlos an, so daß man sich fragt, wer an den erotischen Verwicklungen in Petersburger Jugendcliquen eigentlich Interesse haben soll, außer natürlich Mitglieder Kölner, Münchner und Berliner Jugendcliquen, die sich auf diese Weise wieder einmal die Universalität ihres eigenen Lebensstils bestätigen können - auch in Petersburg trinkt man Sprite und Coke, hört man Richard Ashcroft oder Hip-Hop und verbringt seine Zeit in virtuellen Quasselbuden.
Es gehört zum Pop, daß er objektiv belanglose und alltägliche Erfahrungen wie den ersten Kuß, Korb oder Koitus zu allerhöchster Dramatik aufbläst - das haben die frühen Beatles ebenso wie der junge Goethe gemacht. Künstlerische Reife kann man hier schwerlich fordern, wohl aber die realistische Einschätzung der eigenen Stärken. Irina Denezkina ist immer dann interessant, wenn sie das in ihren Figuren unterschwellig stets lauernde Gewaltpotential zum Thema macht - etwa in der Erinnerung an ein Jugendferienlager in "Walerotschka", die neben den Liebeleien auch die brutalen Mechanismen der Macht unter den Halbwüchsigen und die Überforderung der Erzieher zeigt.
Verstörend ist auch die abgedrehte Phantastik in "Wasja": Ein von der Familie und den anderen Kindern immer nur geschundener und gehänselter Junge nimmt allein den Kampf gegen die unheimlichen, menschenfressenden "grünen Würger" in der Nachbarschaft auf. Dabei verliert er ein Auge, wird am Ende - nach erfolgreich vollzogenem Genozid, bei dem die verstorbene Großmutter als in Fuchsgift getränkter Köder dient - von seinem Vater für die Lügengeschichte mißhandelt und ist dennoch der unerkannte Retter. Eine eklige, an Lovecraft und Splatterfilme erinnernde Geschichte, die man als Tagtraum und Allmachtsvorstellung eines Außenseiters lesen kann oder auch als Parabel auf den inflationären Wertverlust von Menschenleben im neuen Rußland. Auch "Postskriptum", eine kurze paranoide Mordphantasie unter Lebensgefährten, zehrt von dieser sublimierten Gewalt, für die die Literatur als Ventil dient. Insofern kommt es bei den besten dieser Texte - wie auch beim Punk - mehr auf die anarchische Kraft als auf formale Subtilität an.
Ein gewisses literarisches Talent wird man der Autorin - in Anbetracht ihres Alters - nicht absprechen. Sie müßte sich ihre Themen nur vermehrt jenseits des eigenen Bauchnabels suchen. Wer Benjamin Lebert mag, wird aber auch hier auf seine - nicht zu hoch angesetzten - Kosten kommen. Ob man solche Literatur importieren muß, wo doch hierzulande ausreichend Jungschriftsteller auf ihre Chance warten? Was hat Irina Denezkina ihren deutschen Pendants nun voraus? Eines auf jeden Fall, und das ist ja auch nicht geringzuschätzen: Sie sieht viel besser aus.
RICHARD KÄMMERLINGS
Irina Denezkina: "Komm". Erzählungen. Aus dem Russischen übersetzt von Olga Radetzkaja und Franziska Seppeler. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 256 S., geb., 17, 90 [Euro].
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