(wobei der Begriff Kunst sich hier förmlich sträubt - Plastikstadt oder noch besser Plaste-Stadt wäre angemessener) hieß zunächst Stalinstadt und wurde, nachdem Stalins Name von seinen Nachfolgern in den Abort gespült worden war, 1961 in "Eisenhüttenstadt" umbenannt, das heißt, es wurde - nach sozialistischer Manier - verfügt, daß Eisenhüttenstadt nie Stalinstadt geheißen hat. Die "Stadt ohne Vergangenheit" bekam also sehr bald und ungewollt eine anrüchige Vergangenheit.
Tilo Köhler, der laut Angaben im Buch als Hochseefischer, Universitätsassistent (in welchem Fach? Hochseefischerei?) und Verlagslektor gearbeitet hat, legt mit "Kohle zu Eisen - Eisen zu Brot / Die Stalinstadt" ein unbrauchbares Buch vor.
Es beschreibt, nein: umschreibt die Geschichte "Stalinstadts-Eisenhüttenstadts" in kryptischen Kapiteln, die sich nicht trauen, wirklich poetisch, romanhaft, belletristisch zu sein, und die zu ungenau, zu wenig informativ sind, um wirklich ein Bild der kleinbürgerlichen Gigantomanie dieses Stalin-Babylons zu schildern. Nur mühsam zieht der Leser Gewinn aus der Lektüre, etwa aus der - wie fast alles in dem Buch - zusammenhanglos hingestellten Information, daß sich Ulbricht Hoffnung gemacht hat, Leipzig werde dereinst Walter-Ulbricht-Stadt heißen, weshalb der Kelch des Namens Karl-Marx-Stadt an Leipzig vorübergegangen ist und über Chemnitz ausgeleert wurde. Oder die eingestreuten sozialistischen Gedichte, wahre Perlen von Helden der Lyrik wie:
"Überall, wohin man sieht, da wird der Stahl gebraucht, Ob bei Bauer oder Schmied Und im Kosmos auch."
Ein System, das solche Verse staatstragend findet, kann, möchte man meinen, nicht standhalten. Leider hat Tilo Köhler vergessen, die Autoren der Gedichte zu nennen. Absichtlich? Stammen sie nur von der Lyrik-Brigade "Bert Brecht" - oder sind solche vom Meister selber dabei? (Ich traue es ihm zu. Selbst in der schonenden Werkausgabe bei Suhrkamp stehen solche Brecht-Gedichte wie:
"Mutter Wolga, du geliebte!
Lenin war dein Sohn . . .")
Es ist schade um die versäumte Gelegenheit. Stalin-Eisenhüttenstadts Geschichte oder Un-Geschichte ernsthaft dargestellt, wäre das Bild der Krankheit dieses von vornherein zum Scheitern verurteilten Systems. Von vornherein: wir haben es nur nicht von vornherein gewußt.
Das Allerpeinlichste an dem Buch aber liegt zwischen den Zeilen, meine ich. Zwar bin ich, als nie in der DDR gelebt habend, nicht geübt im Lesen zwischen den Zeilen. Dennoch habe ich den Verdacht, daß Tilo Köhler zwischen den Zeilen geschrieben hat. Was? Ungefähr das, was Stefan Heym im Bundestag gesagt hat: Nicht alles war schlecht, in einem System, in dem der wichtigste Körperteil nicht der Ellbogen war, sondern. HERBERT ROSENDORFER
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