west-östlichen Perspektiven, durch überraschende Vergleiche zwischen Systemen und Mentalitäten besticht.
Ugresic knüpft an die Bände "Die Kultur der Lüge" (1996) und "Lesen verboten" (2002) an, in denen sie das Auseinanderbrechen Jugoslawiens und ihr Unbehagen an der Kulturindustrie beschrieben hat. Jetzt kommt das große Verpflanzen, Verschieben und Verschwinden hinzu, die "globale Osmose". Buchstäblich ist keiner zu Hause. Während Osteuropäer aus Not im Westen als Zimmermädchen oder Klomann arbeiten, möbeln Amerikaner und Westeuropäer im Osten ihr Ego über Billigkäufe auf. Dass die Kategorien Ost und West relativ sind, zeigt eine Episode in Kaliningrad. Als das gesamteuropäische Poeten-Projekt "Literaturexpress 2000" mit Ugresic an Bord dort Station macht, bieten Russinnen selbstgebackenen "West-Keks" an: "weil wir Westen sind". Ugresic sucht das Heterogene, in Großstädten und auf Flohmärkten - und findet noch bei den Toten auf dem Friedhof das Bestreben nach ethnischer "Homogenität".
Für die Literaturwissenschaftlerin ist Sprache der Schlüssel zur Mentalität. Anders als bei den Niederländern, die Verkleinerungsformen liebten, gebe es in Ex-Jugoslawien einen Hang zur Vergrößerungsform. "Der sprachliche Gigantismus hilft meinen Landsleuten, sich größer zu fühlen. Als große Menschen finden meine Landsleute ihre Umgebung unangenehm und feindlich." Verblüffender als die Kontraste sind die Übereinstimmungen. Die Hymnen auf Tudjman, der die jugoslawische Vergangenheit um jeden Preis auslöschen wollte, entlarvt sie als ins Nationalistische gewendete Superlative des Sozialismus. Beide, der amerikanische Supermann und der sozialistische Held, seien "Nachbildungen des Prometheus", Übermenschen und Heilsbringer.
Es nimmt nicht wunder, dass Dubravka Ugresic den Begriffen "Identität" und "Kultur", die auch in den Jugoslawien-Kriegen eine so unselige Rolle spielten, zutiefst misstraut. Als kroatische Autorin lässt sie, die mit Jugoslawien ja einen ganzen Kulturraum verloren hat, sich nur ungern bezeichnen. Sie wehrt sich dagegen, dass Autoren aus kleinen Ländern stets als deren Repräsentanten missverstanden würden - anders als ihre Kollegen aus dem Westen, die nur für sich als Person sprächen. Ihr ist fatal, dass "auch der globale Markt sich am liebsten mit ,Identitäten' befasst". Daran passten sich die osteuropäischen Intellektuellen, die es sich "im altmodischen Nest der Nationalliteratur bequem gemacht" hätten, nun willig an. Dagegen setzt Ugresic die Idee einer transnationalen Literatur. Den idealen Vertreter hat sie schon gefunden: einen aus Kalkutta stammenden, in New York lebenden jungen Mann, der einen Roman über ungarische Intellektuelle der Sechziger geschrieben hat.
JUDITH LEISTER
Dubravka Ugresic: "Keiner zu Hause". Essays. Aus dem Kroatischen übersetzt von Barbara Antkowiak, Angela Richter und Mirjana und Klaus Wittmann. Berlin Verlag, Berlin 2007. 301 S., geb., 22,- [Euro].
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