Feldenkirchen unter die Romanautoren gegangen. Nach seinem Erstling "Was zusammengehört" (2010) wächst in "Keine Experimente" zusammen, was eher nicht zusammengehört: Sauerland und Kreuzberg, katholisch-provinzieller Konservativismus und urban-autonome Frauenpower, Krawatte und türkisfarbene Leggins, Handkuss und SMS. Mit einem Wort: der Bundestagsabgeordnete Frederik Kallenberg und die Feministin Liane Berg.
Der Titel bezieht sich natürlich auf den alten Wahlslogan der CDU, und damit fängt die Krux auch schon an: Feldenkirchen kann sich nicht recht entscheiden zwischen Komödie und Tragödie, "Spiegel"-Ironie und Politiker-Melodram. Im deutschen Politroman sind, anders als etwa im angelsächsischen, Klarnamen verpönt, und so muss der Autor Zuflucht zu albernen Versteckspielen und umständlichen Verrenkungen nehmen. Auch in "Keine Experimente" finden die nächsten Bundestagswahlen am 22. September statt; aber Kallenbergs Partei wird immer nur "konservativ" genannt und die pragmatisch-brutale Kanzlerin nie Angela Merkel. Frederik Kallenberg wird von der Presse jedenfalls als "letzter Joker" und "Willy Brandt der Konservativen" gerühmt. Er schwärmt von den "gottgegebenen Stärken" der Frau als Mutter und Hauswirtschafterin und reizt die Kanzlerin mit seiner Gesetzesinitiative für ein Müttergeld zur Weißglut.
Dabei ist Kallenberg kein unverbesserlicher Macho, sondern ein Kavalier der alten Schule, ein wenig weltfremd vielleicht, aber immer höflich, nachdenklich, bescheiden, kurz: unglaublich anständig. Der Mann aus Waldhagen hat die Milch der frommen Denkungsart, Werte wie Heimat, Familie und Tradition, auf Schützenfesten und in der Kirche eingesogen; nicht einmal im Traum fiele ihm ein, seine Jugendliebe Julia zu betrügen oder Pfarrer Schmiedebach zu enttäuschen. Für die politisch korrekten Besserwisser aus der Hauptstadt ist der gutmütige Provinzpolitiker natürlich ein leichtes Ziel, aber Kallenberg fährt nicht einmal aus seiner ehrlichen Haut, wenn ihn Dagmar Kappler - ein kaum verhülltes Porträt von Alice Schwarzer - in einer Talkshow nach allen Regeln der Kunst vorführt.
Liane Berg hat ihn auch schon mal bei einer AStA-Diskussion über Fluch und Segen des Feminismus rüde abgekanzelt, aber eigentlich ist die frauenbewegte, linksalternative Studentin schwer beeindruckt von seiner "süßen Unbeholfenheit" und "erfrischenden Gestrigkeit". Gegensätze ziehen sich an, gemeinsame Fontane-Schwärmerei verbindet, und so beginnt Kallenberg wider besseres Wissen, verrückt vor Lust, Scham und Sehnsucht nach einem anderen Leben, eine verhängnisvolle Affäre. Als Gedankenspiel ist das nicht ohne Reiz, als Plot eines Vierhundert-Seiten-Romans ein konstruierter Missgriff. Gewiss, Claudia Roth ist auch Duzfreundin von Günther Beckstein, und Horst Seehofer war auch schon mal einsam in Berlin. Aber dass eine junge, fröhlich-kratzbürstige Autonome erst mit ihrer Freundin wettet, den "reaktionären Sack" zu verführen, und sich dann unsterblich in seinen altmodischen Charme verliebt, kommt selbst in Bayern eher selten vor. Und dass ein strebsamer sauerländischer Parteisoldat, der sich mit Wahlslogans wie "Am Biggesee wählt man das C" oder "Neu-Listernohl für Helmut Kohl" in den Hinterzimmern der Jungen Union nach oben gedient hat, Frau, Kinder und Karriere für eine Femme fatale aus Kreuzberg aufs Spiel setzt, ist auch schwer vorstellbar.
Feldenkirchen, 1975 in Bergisch Gladbach geboren, kennt die Gegend zwischen Schneppsiefen und Waldhagen und den spröden Charme des Politikeralltags mit seinen Ortsvereinsgrillfesten, Karnevalssitzungen und Caritas-Jubiläen. Er spendiert seinem Helden nicht nur eine exemplarisch schwere Dorfjugend mit zerrütteten Familienverhältnissen, pubertärem Mobbing, Mofa-Rennen und handfesten Zwangsneurosen: Er teilt auch seine Abneigung gegen moderne Plagen wie Smartphones, Talkshows, "Happy-Picnic-Cards" und Honeymoonsuiten auf den Malediven. Die Sehnsucht nach Treue, Ehrlichkeit und Verlässlichkeit, die Klagen über den "Verlust an Tiefe, Ernsthaftigkeit, an gedanklicher wie sprachlicher Eleganz", die Idiosynkrasie gegen die Rhetorik des entschiedenen Sowohl-als-auch und Merkels "schlauen Konservativismus" sind ihm offensichtlich nicht fremd. Und vor allem ist Kallenberg ist ein Mann, der seine Überzeugungen nicht gegen einen Staatssekretärsposten mit Dienstwagen eintauscht.
Als Heimatroman und als Satire auf den Berliner Politikbetrieb hat "Keine Experimente" durchaus seine Meriten. Feldenkirchen kann die männlich-verschwitzte Atmosphäre eines Schützenfests so unterhaltsam beschreiben wie die Herrenwitze bei der Parlamentariersause in Warschau; wie die Kanzlerin Kallenberg beim Eierlikör über den Tisch zu ziehen versucht, ist ein feines literarisch-politisches Kabinettsstückchen.
Aber wenn der Willy Brandt der Konservativen sich auf der Suche nach seiner Geliebten wie der letzte Provinztrottel in Berliner Schwulenclubs und "Kötzis Bierstube" verirrt, bevor er in Lianes WG und am Stechlinsee endlich seine Krawatte lockern und sein Herz ausschütten darf, dann nähert sich der clash of civilizations doch dem Format einer romantischen Degeto-Komödie. Friedrich Merz, der auch mal auf seinem Rocker-Mofa durchs Sauerland bretterte und dann von der Kanzlerin ausgebremst wurde, könnte vermutlich nicht darüber schmunzeln.
MARTIN HALTER.
Markus Feldenkirchen: "Keine Experimente".
Roman.
Kein & Aber Verlag, Zürich, Berlin 2013. 399 S., geb., 22,90 [Euro].
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