den Erwartungen entgegenkommen oder sie unterlaufen. Schreiben ist wie Waschmaschinen verkaufen. Der Unterschied: Was hier zum Erfolg führt, geht dort meist in die Binsen.
Der erste Teil von Judith Kuckarts neuem Roman spielt in den fünfziger Jahren. Wer an die fünfziger Jahre denkt, denkt: "Adenauer". Denkt "Wirtschaftswunder". "Nitribitt". "Eiscafé Venezia". Oder "Capri". Denkt Elvis und Peter Kraus. Rahn und Fritz Walter. Denkt "Ovomaltine" und "Olivetti", "Gummibaum" und "Negligé", "Cocktailsessel" und "BMW Isetta". Na ja, und eben "Waschmaschine". Und genau das bekommt er hier auch.
Eine der beiden Hauptfiguren des Romans ist Leo Böwe, ein junger, ehrgeiziger, zeichnerisch begabter Mann aus einer Kleinstadt nahe Wuppertal, der sich nach seinem vorzeitigen Schulabgang vom Waschmaschinenvertreter zum Marketingfachmann hochgearbeitet hat. 1957 wird er, frisch mit der hübschen, aber biederen Liz verheiratet, als rechte Hand seiner Chefs nach Frankfurt geschickt, um die dortigen Vertreter zu beaufsichtigen. Die Firmendependence liegt im verruchten Bahnhofsviertel; der Kleinbürger Böwe ist augenblicklich fasziniert vom Duft der großen, weiten Welt mit ihren erotischen Versprechungen. Bald schon unternimmt er Ausflüge ins mondäne Baden-Baden, wo er sich eine Geliebte zulegt - der Beginn eines Doppellebens, das sich als Grundmotiv durch sein Leben zieht: "Intelligent, begeisterungsfähig, aber unruhig" sei er, so sein Abschlußzeugnis.
Zufällig ist Böwe auch an jenem Tag in Frankfurt, an dem die Edelprostituierte Rosemarie Nitribitt ermordet wird. Die Begegnung mit einem verwirrten Mann auf der Kaiserstraße weckt in ihm die fixe Idee, ihren Mörder zu kennen. Der Mythos Nitribitt wird für Böwe zum Leitstern seiner Existenz, die doch äußerlich weiter seiner bürgerlichen Umlaufbahn folgt. Nun gibt es auch in seiner Heimatstadt im Bergischen eine Kaiserstraße, dort bezieht er ein standesgemäßes Haus, dort wird 1960 seine Tochter Jule geboren, die zweite Hauptfigur des Romans, der in vier weiteren Zeitstufen - 1967, 1977, 1989, 1999 - die Geschicke der Familie bis in die Gegenwart verfolgt und zugleich ein Panorama der Bundesrepublik ausmalt.
Die Lebensläufe von Vater und Tochter haben damit die Last des Repräsentativen zu tragen: Böwe wird CDU-Kommunalpolitiker, dann Landtagsabgeordneter; Jule wird Ballettänzerin, macht aber dann ihren Betriebswirt nach und arbeitet in den neunziger Jahren als Personalberaterin in einem Großunternehmen. Vollauf damit beschäftigt, neben der Politikerkarriere seine Affären zu organisieren, entfremdet sich der Vater zunehmend von Frau und Tochter. Als er, inzwischen lustiger Witwer, wegen seiner Eskapaden für die Partei am Ende nicht mehr tragbar ist, beschließt er, einen autobiographischen Roman zu schreiben.
Beide Biographien sind gegenläufig - Böwe bereut den Verzicht auf seine künstlerische Begabung und blickt auf ein Leben als Hallodri zurück; Jule hangelt sich von Liebhaber zu Liebhaber auf der Suche nach Mr. Right und gibt ihre Tanzträume auf. Beide sind getrieben von einem ebenso nagenden wie unbestimmten Glücksverlangen. Die alte Bundesrepublik - ein Staat der ausgelebten Sehnsüchte, die Nation der Verspäteten. In der Instrumentalisierung der Figuren für eine mentalitätshistorische Klippschule bleibt allerdings deren Individualität auf der Strecke. Mitunter hat man das Gefühl, an der Seite der Böwes einen Rundgang durch das Bonner Haus der Geschichte zu unternehmen: Nicht nur in den Fünfzigern werden Zeitgeschehen und Atmosphäre vorhersehbar und klischeehaft abgehakt: Schahbesuch und Sechstagekrieg, Deutscher Herbst und Mauerfall - das Prinzip Waschmaschine eben: das ganze Archiv rein in die Trommel, einmal Schleudern mit Spartaste. Das klingt dann so: "Jule kaufte sich am Bahnhofskiosk Baden-Baden nicht die Zeitung, auf der auf der ersten Seite noch immer die Rede von einer in Mogadischu entführten Landshut-Maschine und einem erschossenen Flugkapitän war."
Überhaupt: die Perspektive! Zwar wird personal aus der Sicht der beiden Hauptfiguren erzählt, dies aber keineswegs konsequent: Aus Gründen des Effekts wird immer wieder auktorial vor- und danebengegriffen - bis hin zu purem Kitsch wie "Hoch über ihr sang eine Schwalbe im Flug" -, als sei das schon eine Regieanweisung für die erhoffte Verfilmung.
Doch was am meisten gegen das Buch einnimmt, ist der durchgängig mißgelaunte, ja misanthropische Blick, den Judith Kuckart auf ihr Personal und beileibe nicht nur auf die selbstsüchtigen männlichen Nebenfiguren wirft. Es wimmelt von unangenehm riechenden, geschmacklos gekleideten, unfreundlichen und beschränkten Menschen. So empfinden Böwe und seine Braut sogar die eigenen Hochzeitsgäste als dumm und störend: "Es roch nach Zigaretten. Wie aus der Hölle riecht es, flüsterte Liz." Die interessant angelegte Böwe-Figur wächst so nicht zur tragischen Gestalt, die herkunftsbedingt die Kraft zur Selbstbefreiung nicht findet, sondern schrumpft zum kleingeistigen und unsensiblen Spießer. Für die Vermutung, daß es Kuckart nicht gelingt, sich von der konventionellen weiblichen Opferperspektive ihres Alter ego zu emanzipieren, spricht auch das peinliche Detail, daß das in ihrer Danksagung bedachte Künstlerhaus im Roman als Oase der Selbstfindung verewigt wird.
Am Ende spüren sowohl Vater als auch Tochter dem Schicksal der Nitribitt nach: Sie symbolisiert, was jedem Leben - nicht zuletzt erotisch - vorenthalten bleibt. Doch ist die doppelt vorhandene Kaiserstraße des Titels als Bild innerer Zerrissenheit überdeutlich und platt. "Parallelen, das waren zwei Geraden, die sich im Unendlichen berührten, wußte Böwe aus dem Mathematikunterricht." Judith Kuckarts Kaiserstraßen schneiden sich aber nicht im Unendlichen, sondern höchstens irgendwo im Westerwald.
Judith Kuckart: "Kaiserstraße". Roman. DuMont Literatur und Kunstverlag, Köln 2006. 320 S., geb., 19,90 [Euro].
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