einmal in seinem Haus in Ditzingen einen Blick in das von Dokumenten und Zeugnissen aller Art überquellende Archiv nehmen konnte, weiß, dass dort, in der schwäbischen Provinz, die positivistische Kafka-Forschung eines ihrer Zentren hat. Den Vergleich mit staatlichen Literaturarchiven braucht es im Kafka-Horizont nicht zu scheuen.
Nach den staunenswürdigen Bildbänden "Kafka und Paris" (1999) und "Mit Kafka in den Süden. Eine historische Bilderreise in die Schweiz und zu den oberitalienischen Seen" (2007) hat Hartmut Binder mit dem auf typographische Akkuratesse und vorzügliche Abbildungsqualität setzenden Prager Vitalis-Verlag nun einen weiteren imposanten Bildband mit Großstadtbezug vorgelegt: "Kafkas Wien". Ein bibliophiles Schmuckstück mit sehr vielen hochwertigen Farbabbildungen.
Der Genitiv "Kafkas Wien" kaschiert ein Problem. Obwohl Kafka nicht selten Wien besucht hat, waren die Aufenthalte in der Regel kurz, manchmal nur Stationen auf der Durchreise. Und seine an spezifischer Genauigkeit kaum zu übertreffenden Beobachtungen und die Notizen, die aus ihnen folgten, sind für Wien bei weitem nicht so ausführlich wie etwa die Aufzeichnungen, die sich über die Paris-Reisen und die Schweiz- und Italien-Exkursionen erhalten haben. Binder hat aus dieser Not eine Tugend gemacht und in dem Band nicht nur über Kafka in Wien geschrieben, sondern auch ausgiebig in entgegengesetzter Fragerichtung, und das heißt über die geistige und politisch-materielle Präsenz Wiens in Prag.
Manches lässt sich in seiner Einwirkung auf Kafka schwer einschätzen, etwa die Bedeutung der Kaiserbesuche 1891 und 1901 (die Bilder, die Binder zutage gefördert hat, sind gleichwohl eine Augenlust); anderes ist genauer fassbar, so der Einfluss der Wiener Schriftsteller und Dichter. Die eminente literarisch-biographische Nähe zu Grillparzer (Kafka wird spät noch Milena Jesenská ein Exemplar des "Armen Spielmann" schenken), die vertrackte Lektüre Adalbert Stifters, die reflektierte Stellung zu Karl Kraus, der mit Kafkas Freund Max Brod in einer scharfen publizistischen Dauerfehde lag - sie sind noch nie so einlässlich beschrieben und analysiert worden wie in diesem Band. Und Binders Recherchen bieten immer wieder Überraschendes. So geht aus seiner Musterung des Kraus-Nachlasses hervor, dass es eine bislang übersehene indirekte Korrespondenz zwischen Kraus und Kafka gegeben hat. Über einen Zwischenträger - den als Lyriker hervorgetretenen Franz Janowitz - erhielt Kraus mindestens zwei Schreiben Kafkas, die er durchaus las, dann aber über Janowitz bescheiden ließ, der Meister empfange keine Briefe Kafkas. Man sieht: Karl Kraus ist so kurios wie die um seinen Nachlass nicht ganz so bemühte Kraus-Forschung.
Bei manchen aufschlussreichen Abschnitten kann man Binder dabei zusehen, wie das von ihm gefundene Bildmaterial ihn auch dazu verlockt (ein Kafkasches Thema), den Rahmen seines Themas nicht allzu restriktiv auszulegen. Das Kapitel über Kafka "Im Kabarett" zeigt - manche in Erstreproduktionen - Bilder von Chansonetten (Fatinizza) und Tänzerinnen (Grete Wiesenthal beim Tanzen des Frühlingsstimmenwalzers von Johann Strauss, Gusti Odys beim Schleiertanz), die in Prag auftraten, aber nur mit Wohlwollen dem Thema "Kafkas Wien" zugeordnet werden können. Aber man freut sich gleichwohl mit Binder, dass dank seiner Sammelwut und Findigkeit endlich die Gesichter jener Frauen erkennbar werden, die Kafka beeindruckt haben.
Das Zentrum des Bandes bildet eine akribische Darstellung jener halb beruflichen, halb privaten Wien-Reise vom 6. bis zum 13. September 1913, die ihn zum II. Internationalen Kongress für Unfallversicherung und Rettungswesen führte und zugleich auf den Zionistenkongress im Goldenen Saal des Musikvereinsgebäudes. Binder rekonstruiert geduldig und detailliert die Kafkaschen Wege, seine Zeitpläne, wertet die erhaltenen Sitzungsprotokolle aus und beschreibt dabei präzise die Halbdistanz, die Kafkas eigentümliche Stellung zu beiden Tagungen charakterisiert. Ein Meisterstück positivistischer Kafka-Forschung aus den Quellen.
Sind Felice Bauer und Dora Diamant im kollektiven Gedächtnis der Kafka-Forschung mit Berlin assoziiert, so Wien mit Milena Jesenská. Ihrer Beziehung zu Kafka, ihren gemeinsamen Wegen und den Orten ihrer Zusammenkünfte hat Binder die letzten siebzig Seiten seiner Studie gewidmet, auch hier begleitet von brillanten, oft erstmals im Kafka-Kontext zu sehenden Abbildungen von Orten und Personen. Das Siechtum in Kierling kommt nur kurz zur Sprache und zu Bild.
Folgt man der Logik der Produktion, ist der Band zu Kafka in Berlin bereits vorgezeichnet, und wir dürfen uns wieder auf jene ausgeklügelte Balance von Bild und Wort freuen, die Binders Publikationen im letzten Jahrzehnt vor allen anderen auszeichnen. Vorerst ist dem vorliegenden Wien-Band die Aufmerksamkeit möglichst vieler Leser zu wünschen. Es gibt in diesem Genre nichts Vergleichbares.
ROLAND REUSS.
Hartmut Binder: "Kafkas Wien. Porträt einer schwierigen Beziehung".
Vitalis Verlag, Prag 2014. 456 S., geb., ca. 300 Abb., 49,90 [Euro].
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