späten Büchern die religiösen Motive vorherrschen. Jetzt zählt sie dreiundachtzig, und nun scheint selbst der Zweifel, der immerhin auch positive Lösungen des jeweiligen Problems impliziert, sich nicht länger halten zu lassen. An seine Stelle tritt Resignation, der jüngste Roman trägt sozusagen einen Trauerflor.
Erzählt wird die Lebensgeschichte eines Böhmen tschechischer Nationalität namens Jirschi, eines Generationsgefährten und vor allem Landsmannes der Autorin, die als Böhmin deutscher Nationalität in Pilsen geboren wurde. Zu Beginn des Textes, am Ende und mehrfach mittendrin kommt, außerhalb der Handlung, ein nicht näher bezeichneter Schriftsteller zu Wort, der offenkundig als Gertrud Fusseneggers Alter ego gedacht ist. Jedenfalls teilt dieser Schriftsteller mit ihr Herkunft, sentimentale Neigung zu allem Böhmischen und katholische Bindung. An ihrer Statt erklärt er das literarische Interesse für Jirschi: "Ihnen beiden war dasselbe Land, Böhmen, verlorengegangen, aus ganz verschiedenen Gründen, unter verschiedenen Vorzeichen . . . Ihn, den Schriftsteller, reizte es, einmal den anderen Blickwinkel zu erproben, die gegensätzliche Position zu beziehen."
Soll heißen, daß der Deutsche (respektive die Deutsche) sich zu dem Versuch entschloß, unser Jahrhundert mit tschechischen Augen anzusehen. Gertrud Fussenegger hätte ihre Leser nicht eigens darauf hinweisen müssen, es geht aus ihrer Geschichte klar genug hervor. Offenkundig ist das Buch eine Art Abbitte für die Jahrhunderte der deutsch-österreichischen Suprematie und die Jahre der Vergewaltigung unterm Hakenkreuz. Ein hochmoralisches Unternehmen also, und das kann einem zunächst ganz schön bange machen, weil solche Absicht gar leicht in ein Traktätchen mündet.
Zum Glück besitzt die Autorin genügend Gleichgewichtssinn, um nicht in diese Grube zu stürzen. Sie beschreibt die heiklen Beziehungen zwischen den böhmischen Ethnien mit bemerkenswertem Feingefühl, ohne zugunsten der einen oder anderen Seite etwas zu verschweigen oder zu glätten. Die Gefährdungen, denen sie anheimfällt, sind anderer Art: Da sie nun einmal weder ein Tscheche noch ein Mann ist, kann sie sich nur mittels Imagination in beides hineinversetzen. Ihre Phantasie aber ist mit ihrer völkerversöhnenden Mission schon voll ausgelastet. Anders ausgedrückt: Die gute Absicht wird dem Leser ständig deutlich gemacht, die Figur Jirschi dagegen bleibt von vorn bis hinten ein Pappkamerad, eine Spielfigur, behängt mit den jeweils angemessenen Kleidern oder Lumpen.
Der Reihe nach tritt Jirschi in folgenden Rollen auf: Kind in einer bürgerlich-tschechischen Klavierbauerfamilie; Jüngling in einem leicht hybriden tschechisch-slowakischen Nationalstaat; junger Mann im deutsch besetzten Protektorat; Klassenfeind in der kommunistischen CSSR, aus der er schließlich flüchtet. Der Heimatlose muß sich mühsam durchschlagen, er ist und bleibt Letzter unter den Letzten erst in Westdeutschland, dann in Australien und in den Vereinigten Staaten. Sein einziger Trost ist, daß man auch in der Fremde Pianinos kennt, wie sie einst sein Vater und danach er gefertigt haben, und wenn er zuweilen auf einem spielen darf, erlebt er ein kleines, schnell verfliegendes Glück.
Schließlich nimmt sich die katholische Kirche seiner an, Jirschi wird Priester. Ein bemerkenswert erfolgloser jedoch. Das Hierarchische bleibt ihm fremd. Hätte er ein Programm, so käme es aus der Bergpredigt und dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Statt dessen hat er Emotionen, und wenn er denen folgt, vergrätzt er seine Obrigkeiten. Auch im Schoß der Mutter Kirche bleibt er unbehaust. Und was seine profane Heimat angeht, so nützt es ihm nichts, daß am Ende die politischen Unrechtsgewalten im historischen Orkus versinken. Denn da steht Jirschi schon an der Schwelle des Todes, es gibt keine Rückkehr mehr.
Dieser Jirschi, wie er jahrzehntelang durch die Weltgeschichte strudelt, das Herz voller unklarer Sehnsüchte, ständig eine Beute fremden Willens, ist so etwas wie ein moderner Simplizissimus, nur ohne die Schelmennote des barocken Vorbildes. Seine Erfinderin Fussenegger war auf einen tschechischen Märtyrer aus, um jene beim Gewissen zu packen, die solche Martyrien verursachen. Dabei hat sie im Überschwang ein Monument der Hilflosigkeit geschaffen, in dem wir weder uns noch unsere Nächsten so recht erkennen. Voller Erstaunen gewahrt man auf der einen oder anderen Buchseite, daß Jirschi auch Beziehungen zu Frauen hatte, flüchtige nur, aber immerhin. Wir trauen es ihm kaum zu. Der einzige Beweis, daß es dennoch so war, trägt ein negatives Vorzeichen - Jirschi weiß, wovon er redet, wenn er die alte Kirchenväterweisheit zitiert: "Omnia animalia post coitum tristia sunt". Alle Lebewesen sind nach der Begattung traurig.
Aber dafür hätte Jirschi keine Gefährtin gebraucht. Er ist aus Traurigkeit geformt, eine Komposition in Moll, und nur in den Begegnungen mit dem Pianino findet er hin und wieder zum Dur. SABINE BRANDT
Gertrud Fussenegger: "Jirschi oder Die Flucht ins Pianino". Roman. Verlag Styria, Graz, Wien und Köln 1995. 198 S., geb., 34,- DM.
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