Eishockey-Torwart Bohumil Modrý, der seit 1938 erst mit LTC Prag und dann, nach dem Krieg, im tschechoslowakischen Nationalteam zahlreiche Turniere gewann. Zweifacher Weltmeister und Olympiasieger im GULag - eine historische Pointe, wie man sie bisher nicht kannte. Eine Sieger-Mannschaft, der kürzlich noch Minister die Hände geschüttelt hatten, Idole des Volkes, nun der Folter ausgeliefert, körperlich ruiniert durch Hungerrationen und Doppelschichten.
Die Machthaber wollten damals noch um jeden Preis die Demütigung vermeiden, dass ihre Spieler-Stars in den Westen türmen, und zugleich die Untertanen effektiv einschüchtern. So leitete die Maschinerie der sozialistischen Klassen-Justiz aus ein paar demokratischen Anwandlungen - ein bisschen Renitenz bei einer Sportlerfeier - hochverräterische Verbrechen ab. Und verurteilte Modrý und sein Team 1950 exemplarisch zu Höchststrafen: fünfzehn Jahre Kerker und Zwangsarbeit in den Stollen von Jáchymov, wo Menschen dem sowjetischen Hunger nach Uran aufgeopfert wurden. Aus dem Heilbad mit Grandhotel war ein System von Konzentrationslagern geworden, das die Infrastruktur des Terrors, wie sie von den Nazis eingerichtet worden war, unbedenklich weiter nutzte.
Es war die Tragik Modrýs, dass er seinem Land die Treue hielt. Er ließ die Gelegenheit, als Profi nach Kanada zu gehen, mehrfach verstreichen. Auch seinen Hauptberuf als Bauingenieur hätte er in Kanada wieder ausüben können, während er daheim mit seinem Job als Ziegelei-Verwalter unzufrieden war. Staatsvertreter sicherten ihm kulant zu, dass er gern ein paar Jahre ins Ausland gehen könne. Und so kehrte Modrý mit seiner Mannschaft immer brav von internationalen Turnieren zurück. Die Zeit der schlimmsten Verfolgungen und Säuberungen war perfiderweise zugleich die Phase der stärksten Aufbau-Euphorie. An einer Stelle des Romans heißt es: Der Sozialismus hatte bessere Waffen als Panzer und Maschinengewehre, er hatte die Hoffnung. Die hat Modrý zur Strecke gebracht.
Es ist ein dokumentierter Fall aus der Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts - aber wie macht Haslinger Literatur daraus? Es gibt eine Rahmenhandlung, die nah an der Gegenwart spielt. Deren Hauptfigur ist der Kleinverleger Anselm Findeisen, ein geplagter Mann, der durch seine Vergangenheit als DDR-Dissident und vor allem auch durch sein Rückenschmerz-Martyrium motivisch mit Modrý verbunden wird. Er leidet an einer "Bambuswirbelsäule" (Morbus Bechterew), und ein befreundeter Arzt, selbst ein Alkoholwrack, verschreibt ihm eine Kur in Jáchymov. Dort trifft er die Tochter Modrýs, eine Tänzerin, die gerade familienforschend unterwegs ist und die Stollen des Schreckens besichtigt. Sie erzählt dem Verleger davon, und Findeisen hat ein ergiebiges Erz gefunden: Er drängt sie, die Geschichte ihres Vaters aufzuschreiben. Haslingers Roman präsentiert die historischen Ereignisse um Bohumil Modrý fortan häppchenweise als Manuskriptlektüre Findeisens.
Die Tochter, die anfangs als bloßes Scharnier zu dienen scheint, um die Geschichte Bohumil Modrýs in Bewegung zu bringen, wird von Kapitel zu Kapitel als eigenständige Figur plausibler: mit ihrem Schmerz und ihrer Wut, die nicht vergehen. Ihr biographisches Trauma ist eine Kindheit in Angst und eine Sehnsucht nach dem Vater, die unstillbar bleibt. Diese politisch bedingte Vater-Verstörung wird von Haslinger mittels eindrücklicher Albtraum-Sequenzen illustriert und dadurch immer nachfühlbarer - bis hin zum anrührenden Finale, das mit knappen Worten schildert, wie die Tochter als junge Frau das Siechtum des radioaktiv verstrahlten Vaters miterlebt. Modrý wurde 1955 vorzeitig entlassen, er starb 1963, mit sechsundvierzig Jahren.
Weniger mitreißend lesen sich die Passagen über Eishockey. Offenbar hat Haslinger während der Arbeit an diesem Roman eine schwere Puck-Passion entwickelt. Nun unterrichtet er seine Leser allzu detailliert über die Geschichte dieses Sports in der Tschechoslowakei, über einzelne Turniere, über die Mannschaftaufstellungen, Spielverläufe und Ergebnisse. Sport in der Literatur: Das geht meist nicht gut, und diese Weitschweifigkeiten belasten das Buch unnötig.
Auch die formale Zwitterhaftigkeit des Buches ist problematisch. Eine Hälfte Fiktion, eine Hälfte Dokumentation - daraus ergibt sich nicht zwangsläufig eine runde Sache namens Doku-Fiktion. Die Konstruktion der Rahmenhandlung wirkt behelfsmäßig; und wenn das historische Geschehen auf dem Weg der fingierten Lektüre eines aufregenden "Manuskripts" präsentiert wird, ist das erzähltechnisch ein alter Hut. Die Kapitel über Modrý und den tschechoslowakischen Stalinismus lesen sich darüber hinaus oft wie Sachbuch-Material, dessen Transformation ins Literarische nicht schlackenlos gelungen ist. So wird man mit der Form des Buches nicht wirklich glücklich, auch wenn Findeisen und Modrý als Spiegel-Gestalten überzeugend durch ihr Körperelend verbunden sind und die Doppelgesichtigkeit Jáchymovs als Ort von Kuren und Torturen auf diese Weise gut in Szene gesetzt wird. Auch Findeisens Siechtum, die Gewebezerstörung in seinem Rücken, ist durch Krankengymnastik ja nur zu verzögern.
Doch bei allen Einwänden liest man das Buch dank seines thematischen Gewichts mit Gewinn. Josef Haslinger, der seine Bücher seit dem Bestseller "Opernball" mit gründlicher Recherche fundiert, hat sich in den toten Winkel der Geschichte hinter dem Eisernen Vorhang begeben. Da gibt es noch einiges zu tun für Aufklärer.
WOLFGANG SCHNEIDER
Josef Haslinger: "Jáchymov". Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 272 S., geb., 19,95 [Euro].
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