erneut in den Blick. Sein Titel evoziert das epiphanische Moment von Poesie, nämlich ihre Fähigkeit, die Welt in unserem Bewusstsein aufleuchten zu lassen. Er markiert eine neue, wichtige Station in der Entwicklung dieser Autorin. Vielleicht zu dem, was die Engländer "metaphysical poetry" nennen. Auf jeden Fall zu einer Wendung.
In ihren frühen Gedichtbüchern "Nach Mainz!" (1977) oder "Verwundbar wie in den besten Zeiten" (1979) sympathisierte Krechel mit dem Projekt einer radikalen Aufklärung. Jetzt, dreißig Jahre später, spricht sie eher von Zweifel und Skepsis. In ihrer Breitbach-Dankrede fragte sie: "Gibt es einen Weg, der kein rhetorischer ist, aus der Dunkelheit des Wissens zum Kern des Poetischen? Gibt es Erkenntnis aus der Dunkelheit, gibt es Verstehen?" Man spürt das Tastende dieser Fragen und begreift, dass ihre neuen Gedichte auf Antworten verzichten, die nur rhetorisch sein könnten.
Krechel setzt sich als Wegmarke Zeilen von Genadij Ajgi: "Und dort, wo wir standen, / bleibe ein Leuchten / zurück - unsrer Dankbarkeit." Ihr Buch beginnt mit Erkundungen des Terrains, mit Texten, die man Essay-Gedichte nennen möchte, weil sie Schilderung und intellektuellen Diskurs miteinander verbinden. So handelt "Winterkampagne" von Krieg und Rückzug und den Schrecken der Kälte. Obwohl es Hitler zitiert, ist es kein historisches Gedicht über den Russland-Feldzug. Es sucht jene strukturelle Wahrheit, die in der Sprache beschlossen ist. Intertextuell erinnert es an Brodskys "Verse von der Winterkampagne". Ähnlich verweist "Schneepart Hoffart" auf die späte Lyrik Paul Celans. Manchmal verdichten sich die Anspielungen zu veritablen Zitat-Collagen. So in dem langen Gedicht "Dramatische Praxis, Theorie mit Pelzbesatz", darin sich Szondi, Diderot und andere in ernsten Theatermotiven verstricken.
Die Gestalt erledigt bekanntlich das Problem. In einer Folge heiterer Gedichte erleichtert sich die Autorin in Pastiches, die Huldigungen an Kollegen sind. In "Kantilene, Abschiedsszene", einem Gedenkgedicht für Oskar Pastior, spielt sie sich mit kecken Reimen ins Freie: "wie Buchstaben sich entzünden / wie sie sich finden, Ströme münden / Wasser füllt kein Sieb aus guten Gründen". Hier nimmt sie Motive auf, mit denen sie einst in den Kinder- und Nonsense-Gedichten von "Kakaoblau" entzückte.
Spielerisch agiert auch die Erzählerin. "Mein Balladenladen ist heute geöffnet", heißt es einmal. Dieser Ankündigung folgen traurig-komische Stücke, quasi linguistische Moritaten. Sie umkreisen in diversen Nummern "Das Ende vom Lied". In einer erscheint der Schneider, der die Kleider mit einem "Scherenschnitt" zertrennt und notdürftig zusammenflickt, als Wiedergänger des Dichters als traurige Gestalt. Da hilft nur die makabre Lustigkeit: "Als Heiterkeit nicht mehr gelang / ein Knallen war es, als sie zersprang".
Krechel hat einen speziellen Sinn für die Zerbrechlichkeit. Sie setzt auf das Paradox: Zersplittern ist Gelingen. Sie vertraut - mit einem schönen Kalauer - auf "Grammaire - ma mère". Von ihr angeleitet, beugt sie ihre Knie vor einer Vaterfigur wie H.C. Artmann. "Artmann, Artista" ist - wieder mit einem Wortspiel - ein Art-Man, ein Mann der Kunst. Ihm erweist sie Reverenz: "Es spricht niemand, Die Gedichte schweigen / Nein, wiederum, man muss sich tief verneigen."
Wie können Gedichte schweigen? Auch Ursula Krechel kennt das Chandos-Problem, kennt die Verführungen der Sprache. Doch sie wählt nicht das Schweigen, sondern - wie sie in ihrer Breitbach-Dankrede sagt - die "ausgehaltene Sprachlosigkeit". Diese hat ein meditatives, ein metaphysisches Moment. Es scheint im dritten, dem schönsten Teil ihres Buches auf.
Der Zyklus "Mitschrift eines Sommers" ist das Resultat eines Aufenthaltes in einem Frauenstift. "Vorläufig der Welt entzogen", wird ihr dieser hortus conclusus zu einer epiphanischen Sphäre. Das ausgeruhte und erfrischte Sehen verspricht "Geistausgießen, o überwach hell / Meine vergrößerte Wahrnehmung". In der klösterlichen Ordnung empfindet das lyrische Ich ein "Übermaß von Ewigkeit, dem / Keine Gegenwart standhält". Ja, das meditative Hinhören auf den eigenen Atem scheint die Möglichkeit einzuschließen, dass aus dem Schweigegelöbnis "nahrhaftes Gedichtbrot" entsteht.
Wie nahrhaft ist dieses Brot? Es kann nur Metapher sein, wenn man will: Gleichnis. "Mitschrift eines Sommers" ist nicht religiöses Bekenntnis - der Zyklus ist das Protokoll einer Erfahrung. Ursula Krechel, die Agnostikerin, hat eine Erfahrung gemacht: Die Dunkelheit kann sich jäh erhellen. Sie versucht, in dieser Dunkelheit die Augen offen zu halten. Sie versucht davon zu sprechen. Sie weiß: Chorfrauen und Stiftsdamen haben ein verschwiegenes Erbe. "Auch ich schwiege", bekennt sie, "wenn ich nicht schriebe." Aber sie schreibt ja, wir lesen es und danken es ihr. So schreibend erscheint ihr die Religion weiterhin als eine prekäre, der Geschichte unterworfene Sache. Der Glaube - versichert uns der Schluss des schönen Bandes nicht ohne Ironie - ist "eine pikierte Pflanze / Die andere Blüten treibt". Zum Beispiel Blüten der Poesie, die in der Dunkelheit aufleuchten.
HARALD HARTUNG
Ursula Krechel: "Jäh erhellte Dunkelheit". Gedichte. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2010. 103 S., geb., 20,- [Euro].
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