Teilgebiete der Geschichtswissenschaft unternommen, das seit Thukydides zum Kernbereich der Historiographie gehört, für die Geschichte der zwischenstaatlichen, der internationalen Beziehungen. Das für den deutschen Sprachraum wichtige und überfällige Werk hat sich ein dreifaches Ziel gesetzt: In Abgrenzung von der Theorie- und Methodendiskussion der siebziger Jahre, die Wilfried Loth für einen "Dialog der Taubstummen" (Hans-Ulrich Wehler, Andreas Hillgruber, Klaus Hildebrand) hält, wird im ersten Teil in kritischer Absicht eine Bilanz der disziplingeschichtlichen Entwicklung gezogen.
Im zweiten Teil werden Themenfelder und Deutungsaspekte vorgestellt, denen nach Ansicht der Herausgeber in der Disziplin der internationalen Beziehungen bisher zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt worden sei. Viele dieser Themen beziehen sich auf "Konzepte mittlerer Reichweite", die es erlauben sollen, die handelnden Akteure der Außenpolitik besser in ihrem Umfeld zu sehen, ja, diese Kontexte selbst angemessener zu analysieren: beispielsweise internationale Geschichte als Systemgeschichte, die gesellschaftlichen Dimensionen internationaler Beziehungen, das Perzeptionsparadigma in der Außenpolitik, internationale Geschichte und historische Friedensforschung, Geopolitik und internationale Politik et cetera. Diese Beiträge sollen plausibel machen, daß es an der Zeit sei, für diesen klassischen Zweig der Historiographie einen neuen Gattungsbegriff einzuführen, nämlich "Internationale Geschichte". Denn der Titel des Sammelbandes ist zugleich Programm.
Im dritten Teil werden weitere, mögliche Aspekte dieser neuen Disziplin der Internationalen Geschichte vorgestellt. Es geht um das Problem der Integration in den internationalen Beziehungen am Beispiel der Europäischen Gemeinschaft, um den Wandel europäischer Staatlichkeit und die Verschränkungen regionaler, nationaler und europäischer Identität sowie um die internationale Umweltgeschichte.
In seinem kraftvollen Schlußbeitrag über Globalisierung und die Pluralität der Kulturen demonstriert Jürgen Osterhammel das Erweiterungspotential der neuen Gattung, indem er konkret zeigt, welche Erkenntnisse und methodischen Innovationen die deutsche Geschichtswissenschaft gewönne, wenn sie die "im internationalen Vergleich ganz ungewöhnliche Marginalisierung der außereuropäischen Geschichte", einschließlich der Geschichte der letzten hegemonialen Supermacht der Welt, der Vereinigten Staaten, beenden würde. In systematischer Hinsicht fordert Osterhammel mehr Strukturanalysen, mehr Forschung über transnationale Vernetzungs- und Interdependenzprozesse, eine verstärkte Aufmerksamkeit für weltpolitisches Denken und eine sinnvolle - das heißt nicht zu einem neuen Paradigma aufgeblasene - Einbeziehung von "Kultur" in die Disziplin der internationalen Beziehungen.
Denn das wird sowohl bei den Herausgebern als auch in vielen anderen Beiträgen deutlich: Die gewünschte Erneuerung der Disziplin wäre sinnlos, wenn das Kind mit dem Bade ausgeschüttet würde. Bei aller Erweiterung des Gegenstandsbereiches werden die Außenpolitik der Nationalstaaten und das System der Großmächte, Diplomatie- und Machtstaatsgeschichte, die alten Fragen von Krieg und Frieden, Gleichgewicht und Hegemonie ein vitaler Teil der Disziplin bleiben müssen. Ansonsten könnte es zu einem ganz anderen "Dialog der Taubstummen" und einer Selbstmarginalisierung der Historiker kommen - zu einem Phänomen, das man in den Vereinigten Staaten besichtigen kann. Während sich dort die Historiker der internationalen Beziehungen auch unsinnigen Anregungen der Kulturgeschichte öffnen, ist in den Korridoren der Macht und den außenpolitischen Denkfabriken weiter in erster Linie von Freund und Feind, von Entscheidungen und vitalem Interesse, von Macht und Herrschaft, von "hard power" und "soft power" die Rede.
Dieser verdienstvolle Sammelband spiegelt wie kein anderes deutschsprachiges Werk die Vielfalt und Vitalität der "Internationalen Geschichte". Die 18 Beiträge sind ein Beweis dafür, daß die Geschichte der internationalen Beziehungen als Kerndisziplin der Geschichtswissenschaft mindestens ebensoviel innovatorische Kraft entfaltet wie das Lieblingskind der sechziger und siebziger Jahre, die Sozialgeschichte, und das Lieblingskind des gegenwärtigen Zeitgeistes, die Kulturgeschichte.
DETLEF JUNKER
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