Straßen. General Jaruzelski hatte am 13. Dezember in Polen das Kriegsrecht verhängt. Selten ist der Anfang dieser bleiernen Zeit so treffend dokumentiert worden wie in Niedenthals Aufnahme. Sie erschien damals in einem amerikanischen Nachrichtenmagazin und zählt inzwischen zu den fotografischen Ikonen jenes Ausnahmezustands, der die erste Euphorie der Solidarnosc-Bewegung unter einer Welle der Gewalt begraben sollte.
Dass dies nur die vorläufige Unterbrechung eines nicht mehr aufzuhaltenden Prozesses war, der schließlich um das Jahr 1989 im Zusammenbruch des kommunistischen Systems kulminierte, daran erinnert eine Auswahl von achtzig Fotografien Chris Niedenthals. Der Sohn polnischer Emigranten wuchs in England auf und lebt seit Ende der siebziger Jahre in Polen. Weil er zu den ersten Fotografen gehörte, die 1980 auf das Gelände der Danziger Werft gelassen wurden, zählen seine Bilder aus den achtziger Jahren heute zu den wichtigsten Zeugnissen des Aufbruchs.
Unter dem Titel "In Your Face", was so viel wie "auffällig" bedeutet, sind jetzt seine Porträts von Menschen aus verschiedenen Städten Ostmitteleuropas in einer deutsch-polnischen Edition erschienen. Ob Demonstranten auf dem Prager Wenzelsplatz, streikende Arbeiter auf der Danziger Leninwerft, Fabrikarbeiterinnen, Verkäuferinnen und Studenten in Warschau, Bergleute nach der Schicht, endloses Schlangestehen vor leeren Geschäften, überfüllte Kirchen - bis heute sind es vor allem Bilder von Massen, die unsere Erinnerung an 1989 prägen. Mal dicht gedrängt, ein anderes Mal schweigend, öfter Parolen skandierend. Auf der gegnerischen Seite dann die uniformierten Massen, marschierend und sich hinter Schutzschilden verbergend, allein durch ihre Orchestrierung die Kontinuität einer gesellschaftlichen Ordnung vortäuschend.
Niedenthal isoliert das Individuum aus dem Kollektivkörper, fokussiert das Gesicht in der Menge. Ein Gesicht, in dem er den Augenblick des Umbruchs zu erkennen meint und für das westliche Publikum, das er mit seinen Bildern belieferte, festhalten möchte. "Wenn man die Bilder von damals betrachtet", schreibt Martin Pollack, der über Jahre gemeinsam mit Niedenthal durch Osteuropa reiste, in seinem einleitenden Essay, "und in die Gesichter der Menschen schaut, glaubt man darin oft weniger triumphierende Freude als Skepsis und Unsicherheit zu entdecken. Triumph und Skepsis lagen in diesen unruhigen Zeiten eng beieinander." Es sind fragende Gesichter, in denen sich zwiespältige Gefühle spiegeln. Was würde die neue Zeit bringen? Was würde geschehen, wenn das alte System zusammenbräche? Was würde an seine Stelle treten?
Auch die führenden Köpfe hat Niedenthal in dieser Zeit porträtiert. Man blickt in die Gesichter von Václav Havel, von Tadeusz Mazowiecki, nach seiner Wahl zum polnischen Ministerpräsidenten, und von Leszek Balcerowicz, den ersten Finanzminister der freien Regierung. Sie waren diejenigen, die im Moment des Übergangs Bindungen auflösen und neue schaffen mussten. Und das, ohne genau zu wissen, wohin das alles führt.
Es ist auch die Gemeinschaftsemphase, die eine jede Revolution trägt. Martin Pollack erinnert sich, wie die Menschen auf dem Wenzelsplatz ihre Schlüsselbunde hochhielten und über ihren Köpfen schüttelten, so dass der ganze Platz hallte. Sie begrüßten mit dem Klingeln ihrer Wohnungs- und Büroschlüssel die Vertreter des Volkswillens und läuteten das Ende der Macht der Kommunisten ein. Unweigerlich denkt man da auch an die Massenproteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo, als die Ägypter ihre Verachtung für Mubarak demonstrierten, indem sie ihre Schuhe mit den Sohlen voran hochhielten. Jede Revolte hat ihre eigenen Gesten und Symbole, dennoch scheint die Bildsprache des Protests universell.
STEFANIE PETER
Chris Niedenthal: "In Your Face". Bilder aus unserer jüngeren Geschichte.
Mit einem Essay von Martin Pollack. Verlag Edition Fototapeta, Warschau / Berlin 2011. 168 S., geb., 24,80 [Euro].
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