vermutlich mehr als tausend Opfer eines historisch realen Völkermordes im Jahr 1835, den man auch und vielleicht gerade im modernen Neuseeland gerne verdrängt, wo Kultur und Sprache der Maori, der polynesischen Erstbesiedler des Landes, sich eines wachsenden Interesses auch seitens der Pakeha erfreuen, der Nachfahren europäischer Einwanderer. Von denen gab es 1835 erst wenige. Ihre Waffentechnik aber war schon proliferiert und befeuerte die Fehden zwischen verschiedenen Stämmen der Maori. Zwei in diesen sogenannten Musketen-Kriegen entwurzelte Maori-Gruppen kamen mit einem gekaperten englischen Schiff auf die Chathams, von ihren Einwohnern, den Moriori, "Rekohu" genannt. Dort ermordeten sie im Dezember 1835 fast alle Moriori. Die wenigen Überlebenden wurden versklavt.
Auch die Sprache der Moriori hat das nicht überlebt. "Imi" ist ein Wort daraus. Im nahe verwandten Maori lautet es "iwi" und bedeutet "Stamm" oder "Volk", aber auch "Mensch" und, ja, "Knochen". Der Imi von Rekohu ist so etwas wie ein Geist, ein entkörperter Bewusstseinsrest. Den Namen dessen, der er einmal war, hat er schon vergessen. "Scheint, ich erinnere das, was ich brauche, um die Geschichte weiterzutragen."
Diese Geschichte erzählt Imi nicht alleine. Tina Makereti, die selbst sowohl Maori als auch Pakeha zu ihren Vorfahren zählt, verteilt sie auf drei kunstvoll aufeinander bezogene Stränge. Denn es geht in diesem Roman weniger um den unsagbar traurigen historischen Hintergrund selbst als um Folgen solcher Ereignisse, die noch Generationen später nachwirken.
Der erste Erzählstrang spielt in den Achtzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts im Fjordgebiet um das Städtchen Picton - heutige Neuseeland-Reisende kennen es als Ziel der Autofähren, mit denen man von Wellington aus über die Cook-Straße auf die Südinsel gelangt. Mere Irihapeti ist die Tochter einer geachteten Maori-Familie, deren Lebenswelt schon ein Stück weit mit der der Europäer verschmolzen ist. Ihr Name ist die Maori-Form von "Mary Elisabeth", ihre Brüder heißen John, Sonny und Bill, und ihre Tante ist engagierte Christin.
Mere wächst zusammen mit dem vier Jahre älteren Iraia auf, der auf der Farm als Knecht arbeitet. Tatsächlich ist er aber sehr viel weniger als das. Wie erst allmählich klar wird, stammt Iraia von versklavten Moriori ab - er ist der Enkel des Imi. Zwar wurde Sklaverei unter den Maori unter dem Einfluss der christlichen Missionare schon seit 1839 nicht mehr praktiziert, doch noch mehr als vierzig Jahre später bleibt der soziale Abgrund zwischen Mere und Iraia unüberbrückbar. Als die beiden Teenager ihre Gefühle füreinander entdecken, bleibt ihnen nur die Flucht.
Der zweite Strang beginnt etwa hundert Jahre später mit der Geburt der Zwillinge Lula und Bigs, den Kindern einer Maori namens Tui und ihres Mannes, eines Pakeha. Infolge einer Laune der Genetik schlägt Bigs äußerlich völlig nach der Mutter und Lula ganz nach dem Vater, rote Haare, Hauttyp I und Sommersprossen inklusive. Anders als die auch stilistisch recht viktorianisch gehaltene Erzählung von Mere und Iraia, die gelegentlich auch Iraias Perspektive einnimmt, erlebt der Leser die Zwillinge und ihre Familie ganz durch die Augen und Gedanken Lulas. Von dieser Warte aus gibt es zunächst auch deutlich mehr zu sehen. Denn der inzwischen erwachsenen Lula macht - wenn zunächst auch eher unbewusst - ihre Abkunft zu schaffen, während sich ihr selbstsicherer Bruder ganz mit seiner Maori-Genealogie, seiner Whakapapa, identifiziert. Dem einst engen Verhältnis der Geschwister ist die Identitätsfrage bald abträglich. "Du kannst dir eh nicht vorstellen, wie es ist, Maori zu sein, weil du immer und überall als Pakeha durchgehst", wirft Bigs seiner Schwester schließlich vor, obgleich er sein Leben und seine Identität viel besser im Griff hat als sie.
Als wäre diese Konstellation nicht schon spannend genug, hat sich da aber noch etwas anderes zwischen die Zwillinge geschoben. Es ist ein dunkles Geheimnis, das Tui vor ihrem Mann und ihren Kindern immer verborgen hatte. Erst als sie stirbt und in Picton, woher sie stammte, eine traditionelle Maori-Trauerfeier abgehalten wird, erfahren es die Zwillinge von Verwandten, mit denen sie zuvor keinen Kontakt hatten: Ihre Mutter war eine Nachfahrin von Mere und Iraia. Letzterer aber wird in der Whakapapa ohne Vorfahren geführt. Tuis Abkunft von einem versklavten Moriori ist noch ein volles Jahrhundert später ein Grund für den Rest ihrer Maori-Familie, sie auszuschließen. Aus Scham? Stolz? Oder vielleicht doch auch einem Rückstand an Rassismus? Nun ist es vor allem Bigs, der überzeugte Maori, für den diese Entdeckung ein Problem ist.
Den dritten Erzählstrang schließlich spinnen die Monologe des Imi. In ihnen begleitet der Ermordete seine Nachkommen auf ihren Trajektorien durch die beiden anderen Berichte, erzählt schließlich auch immer mehr von sich und dem namenlosen Grauen des Jahres 1835. Die Imi-Passagen verweben die drei Zeitebenen und bedienen sich dabei einer wundersam poetisch verfremdeten Grammatik. Es ist eine nicht geringe Leistung der Übersetzerin Friederike Hofert, den seltsamen Zauber dieser Reden im Deutschen bewahrt zu haben. Etwa, wenn Imi erzählt, wie nicht alle Invasoren auf Rekohu dem Blutrausch verfielen: "Manche von den Eingedrungenen sehen, was falsch gemacht wird und sie versuchen zwischen meine Leute und den meistschlimmen von ihren Leuten zu kommen. Manche bieten Schutz, machen die Gesklavten-Fessel mehr locker. Aber was für ein Leben leben sie? Sie sind so weit von ihren eigenen Böden. Sie müssen an unsere klammern. Ihr Hokopapa ist jetzt blutgefleckt. Das ist genug Utu, genug Rache."
"Hokopapa" ist das Moriori-Wort für das, was bei den Maori "Whakapapa" heißt, die Abstammung, die Bigs so viel bedeutet, ihm nun aber vor Augen führt, dass das mit der Identität mitunter so eine Sache ist - auch dann, und erst recht, wenn man sich für eine entscheiden will. Die Spannungen zwischen den Zwillingen verdichten sich noch einmal und lösen sich schließlich, als Lula und Bigs zusammen auf die Chatham-Inseln reisen, wo sie über die Familie ihrer Mutter ein altes Haus geerbt haben. Für Lula, so ahnt der Leser, wird die Reise auf das raue Archipel im Südpazifik endlich die Frage beantworten, wohin sie gehört - während der Roman mit einem elegischen Motiv des Erinnerns angesichts drohenden Vergessens ein letztes Mal die Zeitebene wechselt: zurück zu Mere Irihapeti und ihrem Iraia, den Ahnen einer rothaarigen jungen Frau. ULF VON RAUCHHAUPT
Tina Makereti:
"In der Tiefe der
Wurzeln beginnt ein Singen". Roman.
Aus dem Englischen von Friederike Hofert.
Verlag w_orten & meer,
Hiddensee 2022. 500 S., br., 16,- Euro.
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