wenig besser. "Die Öffnung der Grenze in Berlin berührt die Interessen der Alliierten", hielt er dem SED Generalsekretär vor. Krenz gab eine bemerkenswerte Antwort: "Dies ist jetzt nur noch eine theoretische Frage. Das Leben hat sie heute nacht beantwortet."
Krenz hatte es so zwar nicht gemeint: Aber auf den Straßen Berlins hatten sich die Deutschen faktisch die Souveränität genommen. Und Moskau sah fast tatenlos zu: dem Zerbrechen seines osteuropäischen Imperiums, sogar der Auflösung der Sowjetunion selber. Sowjetorthodoxe Kritiker haben Michail Gorbatschow dafür krimineller Inkompetenz geziehen. Hannes Adomeit - er ist Rußland-Referent der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen - nimmt ihn jetzt in Schutz. Nicht Gorbatschow habe schuld am Untergang der Sowjetunion und ihres Imperiums, meint er, sondern Stalin.
Adomeits Buch über die sowjetische Deutschlandpolitik von Stalin bis Gorbatschow ist die erste umfassende Studie, die sich auf das Archiv des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion - es wurde 1993 schon wieder geschlossen - und auf das zentrale Parteiarchiv der SED stützt. Aber nicht auf die spannenden Dokumente kommt es an, sondern auf ihren Leser und auf die Fragen, die der an sie stellt. Und einen besser vorbereiteten Leser als Adomeit hätte das zentrale Parteiarchiv der SED nicht finden können. Vor der "Wende" war er knapp zwanzig Jahre lang einer jener Spezialisten, die man ironisch "Kremlologen" nannte. Aber die "Kremlologie" war eine ernste Angelegenheit. Um aus Tass-Kommuniqués und stundenlangen Parteitagsreden die versteckten Hinweise herausfiltern zu können, die sie enthielten, mußte man sich mit "seinen" Kommunisten sehr gut auskennen. Adomeit breitet seine "Kremlologie" nun noch einmal aus. Jeder Seite seines Buches merkt man an, daß er Vergnügen daran hat, endlich das vollständige Bild zusammenzusetzen.
Stalin verfolgte 1945 in Deutschland mehrere Ziele gleichzeitig. Keines ließ sich realisieren: Die Ausdehnung kommunistischer Herrschaft auf ganz Deutschland scheiterte an den Deutschen. Schwächung, Ausplünderung und territoriale Reduzierung Deutschlands machten die Westmächte nicht mit. Die Neutralisierung Deutschlands war gefährlich: Zwischen Kapitalismus und Sozialismus würde Deutschland kaum neutral bleiben können. Am sichersten wird es Stalin schließlich erschienen sein, einfach festzuhalten, was die Rote Armee erobert hatte.
Zufall war die Teilung Deutschlands dennoch nicht. Stalin folgte imperialer Logik. Aber er beging, meint Adomeit, einen schweren Fehler. Denn zu keinem Zeitpunkt sollte es Moskau gelingen, das halbe Land mit der halben Hauptstadt und der halben Nation vollständig in das sowjetische Imperium einzubauen und den Eisernen Vorhang wirklich zu schließen. Die DDR sollte der "strategische Alliierte" sein, der das osteuropäische Imperium im Westen abschloß. Aber der Eckstein war vom ersten Tage an brüchig. In Deutschland, in Berlin, das ist Adomeits These, überdehnte Stalin sein Imperium. Es war kein Zufall, daß 45 Jahre später genau dort die Auflösung begann.
Die "unnatürliche und künstliche Teilung einer großen Nation", so Schewardnadse 1990, konnte schwerlich dauern. Das wußte auch Stalin. Moskau unternahm mehrere Versuche, aus dem unbefriedigenden deutschen Status quo auszubrechen, immer in Berlin: 1948 mit der Blockade, 1958 mit Chruschtschows Ultimatum. Stalins berühmte "Friedensnoten" an die Westmächte, 1952, gehörten nicht dazu. Sie waren ein Propagandamanöver, liest Adomeit in handschriftlichen Aufzeichnungen Wilhelm Piecks, das die westdeutsche Öffentlichkeit verwirren und von den Westmächten trennen sollte. Ersteres Ziel erreichte sie noch dreißig Jahre später.
Der Bau der Mauer, 1961, war Eingeständnis des Scheiterns aller Ausbruchsversuche - und Ausgangspunkt neuer Taktik: Der bedrohliche Status quo sollte wenigstens stabilisiert werden. Vorführung militärischer Stärke und vage nukleare Drohungen sollten die Westeuropäer - vor allem Bonn - dazu bewegen, ihn anzuerkennen. Die Entspannungspolitik, so sah es jedenfalls Moskau, war das Ergebnis. Helfen sollte es Moskau nichts. Moskau und Bonn, urteilt Adomeit über deren Moskauer Vertrag von 1970, "unternahmen den vergeblichen Versuch, das Abnorme normalisieren zu wollen".
Folgenlos blieb die Entspannung aber nicht. Erich Honecker ließ sich auf Entspannung ein und auf den Wettstreit der Systeme - mit Geld aus Bonn. Moskau warnte vergeblich. 1979 hieb Leonid Breschnew vor dem versammelten Politbüro der SED mit der Faust auf den Tisch und beschuldigte Honecker, "die DDR in den Bankrott zu führen". Moskau, schreibt Adomeit, begann schon die Kontrolle zu verlieren. Bonn hätte schon damals die DDR für Moskau sehr teuer machen können. 1984 unternahm Tschernenko einen letzten Versuch, die Entwicklung zu steuern: nach dem zweiten Bonner Milliardenkredit verbot er Honecker den Staatsbesuch in Bonn.
Gorbatschow hielt an dem Verbot zunächst fest und hatte zusätzlichen Grund dafür: Bonn sollte für die Nachrüstung bestraft werden. 1987 hoffte Gorbatschow außerdem auf den Wahlsieg der SPD. Willy Brandts "Nebenaußenpolitik" wurde damals kritisiert. Sie ging weit: 1986 berichtete Gorbatschow Honecker, das SPD-Vorstandsmitglied Egon Bahr habe ihn besucht, um ihm "das Versprechen abzunehmen, dieses Jahr nicht in die Bundesrepublik zu reisen". Gorbatschow übermittelte Brandt die entsprechende Zusage. Die Moskauer und Ost-Berliner Unterstützung für die SPD blieb vergeblich. "Wir wollten ihnen helfen", klagte Honecker Januar 1987, "aber denen kann man nicht helfen. Niemand glaubt ernsthaft, daß die überhaupt regieren wollen." Nach der Wahl reiste Honecker nach Bonn.
Unterdessen stiegen in Moskau die Kosten der Perestrojka. Gorbatschow suchte nach Wegen, den Preis imperialer Machtausübung in Osteuropa zu reduzieren. Das war der Ursprung seiner Formel von der "Freiheit der Wahl". Moskau wollte die Satelliten nicht mehr subventionieren. Gorbatschow meinte nicht die Auflösung des Imperiums, sondern wirtschaftliche und politische Reformen - auch in der DDR. Aber in dem Teilstaat mit der Teilnation waren Reformen nicht möglich: ohne Sozialismus konnte die DDR keine Alternative zur Bundesrepublik sein. Honecker wußte das und sträubte sich. Nachdenklich stimmt, daß Willy Brandt es nicht wußte. Drei Wochen vor der Öffnung der Mauer erzählte er Gorbatschow vom "neuen Selbstgefühl" der Ostdeutschen und plädierte für eine Alternative zur Wiedervereinigung: verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und einer reformierten DDR. Mit dem Machtmonopol der SED, deutet Adomeit an, hätte Brandt wohl leben können. Er beriet mit Gorbatschow, wie er den Antrag der jungen Ost-SPD um Aufnahme in die Sozialistische Internationale - Brandt war ihr Vorsitzender - behandeln sollte.
An der Bankrotterklärung kam aber auch Honeckers Nachfolger nicht vorbei. Am 1. November 1989 nannte Krenz in Moskau Zahlen: Wenn die Schulden nicht steigen sollten, würde die DDR Konsum und Lebensstandard um 30 Prozent senken müssen. Gorbatschow konnte nicht helfen, so blieb nur Bonn. Aber Bonn hatte kein Interesse an der Existenz der DDR. Bundeskanzler Kohl verlangte von Ost-Berlin nicht Reformen, sondern den Systemwechsel.
Ausgerechnet Margaret Thatcher verdankte es Kohl, daß auch Moskau jeden Tag abhängiger wurde von Bonn. Auf dem EG-Gipfel in Dublin, Ende Juni 1990, blockierte die Premierministerin einen Kredit für Gorbatschow: westliches Geld sollte nicht das "Sauerstoffzelt" abgeben, in dem die KPdSU überlebte. Auf dem G-7-Gipfel in Houston 14 Tage später stimmten ihr Präsident Bush und die Regierungschefs Kanadas und Japans zu. Kohl konnte es recht sein. Gorbatschow hatte nur noch eine Bank: Bonn.
Adomeit hat das mit Abstand beste Buch zum Thema geschrieben - in sehr lebendigem Amerikanisch. Achtzig Prozent seiner potentiellen deutschen Leser wird er darum nicht erreichen. Dabei haben sie mit ihren Steuern jahrelang sein Ebenhausener Gehalt bezahlt - und das schöne Buch. HEINRICH MAETZKE
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