zutreten. Kein Wunder, daß die australischen Männer vor ihr zurückschrecken.
Annika lebt allein und das gerne. Diese Super-Heroine (überdies attraktiv, was einer Verfilmung weniger Hindernisse entgegensetzen dürfte als "Fräulein Smilla") gerät in eine fein ausgedachte und gekonnt durchgeführte Kriminal- und Agentenintrige. Was James Bond die Atombombe oder Weltvernichtungsformel, ist hier ein übersinnlich begabtes Mädchen, an dem der australische wie der amerikanische Geheimdienst interessiert ist. Diese Maria vermag real existierende Personen zu zeichnen, die sie noch nie gesehen hat, aber auch militärische Komplexe in Feindesland. In einer traumatischen Vision erkennt sie sogar, wie ein Meteor auf die Erde zurast - was mehrere Observatorien sogleich bestätigen.
An dem Projekt "Atlas X", das sich paranormale Fähigkeiten zunutze machen will, ist Annikas Freund Simon beteiligt, aber auch eine junge Frau, die mit Schlangenbissen auf ihre Station eingeliefert wird und nur knapp überlebt. So gerät die Ärztin selbst in den Fall und zwischen Fronten, deren Verlauf sie nicht kennt. Fortan säumen Leichen ihren Weg: Marias Eltern, der Agent Simon und eine wichtige Zeugin werden zu Opfern der geheimdienstlichen Konkurrenz. Annika selbst überlebt diverse Attacken, darunter einen spektakulären Flugzeugangriff auf ein Motorboot.
Wer es also überdrüssig ist, den mühsamen Ermittlungen des schwedischen Serienkommissars Wallander zu folgen, der findet bei Annika Niebuhr Action nach Belieben. Aber wie Wallanders Schöpfer Henning Mankell will auch Michael Larsen mehr als raffinierte Spannung. Larsen will sogar mehr als Mankell. Gab sich dieser in sozialdemokratischer Tristesse mit der Klage über verlorene Bürgertugenden zufrieden, so ist "Im Zeichen der Schlange" eine zweite Ebene eingezogen, die naturwissenschaftliche Vorbildung erfordert, und zwar auf fortgeschrittenem Kenntnisstand. Mit Newton und der Schulphysik blamiert sich der Leser vor Annika sofort.
Sherlock Holmes spielt Geige, Wallander hört Opernaufnahmen. Annika Niebuhr aber bewegt sich in ästhetischen Gefilden anderer Art: in Molekularstrukturen von Toxinproteinen oder den Himmelsaufnahmen des "Anglo-Australian Observatory". Diese Bilder haben ihre eigene Schönheit, aber die Informationen, die sie enthalten, signalisieren Gefahr. Expertenwissen ist tödlich, Nichtwissen aber auch. Diese Dialektik treibt Larsen konsequent, aber auch etwas penetrant voran. Naturwissenschaftliche Forschungen, die er beständig referiert, münden auf den verschiedensten Feldern immer in das Paradox: Je mehr wir wissen, desto mehr wissen wir nicht. Ganz ähnlich geht es auch Annika bei dem Versuch, die Agenten-Intrige aufzuklären. Jedes neue Faktum wirft alte Gewißheiten um, so wie Newtons Physik unter Einsteins Entdeckungen zusammenstürzte "wie eine wackelige Streichholzkonstruktion. Es kam Annika vor, als ob die, die nach Gottes Wissen griffen, immer zurückgeschickt würden. Nicht mit einer tieferen Einsicht in dieses Universum, sondern mit einer noch präziseren Kenntnis davon, wie unfaßbar begrenzt unser Wissen war."
Diese Quantenphysik des Thrillers, die fortschreitende Aufklärung ins Ungewisse, ist nicht ohne Reiz. Allerdings überreizt der Autor sein Erzählprogramm, indem er nach nahezu jedem Handlungsschritt einen wissenschaftlichen Exkurs einschaltet. Auch sind die Vergleiche oft von einer Art, die langwierige Erläuterungen nötig machen. So heißt es einmal, als die Heldin in ihrem eigenen Haus überrascht wird: "Dann erstarrte sie. Im Dunkeln stand sie. Mucksmäuschenstill." Das reicht Larsen nicht. Um zu dem gewünschten Vergleich - "Annika fühlte sich, als ob sie in einem Bassin mit ,warmem' Wasser stünde" - zu gelangen, muß er einen ganzen Absatz lang erklären, was die Meeresbiologen unter "warmem Wasser" verstehen (nämlich eine gefährliche Konzentration von Quallengift). Wer gerade mit der Heldin in Erwartung eines schrecklichen Ereignisses erstarrt ist, der pfeift auf die Meeresbiologie.
Ganz sattelfest scheint Larsen im unermeßlichen Reich des Wissens auch nicht zu sein. Die Geschichte von der tropischen Linde, von der bei einem Experiment zahllose bis dahin ganz unbekannte Tierarten geschüttelt wurden, ist zwar hübsch, kann aber so nicht stimmen: "Herunter prasselten auch mehr Ameisenarten, als es in einem mittelgroßen europäischen Land überhaupt Ameisen gibt." Das wären etwa zehn Billionen Arten - eine absurde Vorstellung. Der Wissenschaft bekannt sind heute weniger als zehntausend.
MARTIN EBEL
Michael Larsen: "Im Zeichen der Schlange". Roman. Aus dem Dänischen übersetzt von Ingrid Glienke. Carl Hanser Verlag, München 2000. 376 S., geb., 39,80 DM.
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