Cartesischen Erkenntnissen betrachten. Nicht, weil nicht ordentlich nachgedacht worden wäre. Sondern weil, was "unserem Denken an Formung der Welt abverlangt wird, zuverlässig falsch" ist. Bockelmann sieht die moderne Philosophie in einem Reflex gefangen, der sich mit der Einführung des modernen Geldverkehrs im sechzehnten Jahrhundert ausgebildet habe: Die Abstraktionsleistung, die das Verhältnis von Geld und Ware verlangt, hat seinen Erkenntnissen zufolge einen Dualismus von "reiner Einheit" (Geld) und "rein bezogener Einheit" (Ware) hervorgebracht. Diese Entwicklung nennt Bockelmann "funktionale Abstraktion".
Sie ist schuld am Gesicht der Moderne. Vergessen wir die Aufklärung, die Entdeckung Amerikas, den Fall Konstantinopels, die Reformation oder was noch als Erklärung für die Wende zur Neuzeit vorgebracht worden ist: Eske Bockelmann hat die einzig wahre Lösung gefunden. Die von jeglichem materiellen Substrat abgelöste Größe Geld verdammt in - mathematisch betrachtetem - funktionalem Zusammenhang alles, was auf dieser Welt verfügbar ist, zur abhängigen Größe. Dafür muß wohl im Hirn des Menschen (genauer läßt sich Bockelmann nicht über die erforderlichen physiologischen Mechanismen aus) eine Synthesis notwendig sein, die dann "das objektive Material, welches in unsere Wahrnehmung eingeht", verändert. Und zwar derart, daß schon die nächste Generation, namentlich Herren wie René Descartes, Galileo Galilei oder Giovanni Gabrieli, diese Synthesis gleichsam habituell leistet - als Reflex eben, ohne diesen zu reflektieren. Und mehr als das: Von da an war alle Erkenntnis an diesen Reflex gebunden. Der Mensch konnte nicht anders, als nur noch in einer Richtung, der der prinzipiell verfälschenden funktionalen Abstraktion, zu denken. Eine bemerkenswerte evolutionäre Leistung im Zeitraum eines halben Jahrhunderts. Aber da die Evolutionstheorie natürlich auch Ausfluß dieses reflexhaften Denkens ist, steht sie ohnehin schlecht da.
Nun ist die revolutionäre Bedeutung der sich um fünfzehnhundert in Europa ausbreitenden Geldwirtschaft keine neue Erkenntnis; und schon die klassische Ökonomie hat mit ihrer Geldschleierthese einiges thematisiert (wenn auch ganz anders), was Bockelmann in relativer Unkenntnis der Fachliteratur hier als Entdeckung vorstellt. Aber er faßt die Auswirkungen dieser wirtschaftlichen Veränderung eben viel weiter als alle Exegeten vor ihm. Wie kommt ein Altphilologe und Germanist auf so etwas?
Nun, an einer Stelle zu Beginn des Bandes erfährt man von Bockelmanns Faible fürs Tanzen, besonders für die Rumba, während ihm die Tänze der Gegenwart als Gestampfe gelten. Sei's drum. Jedenfalls muß eine der eurhythmischen Ergötzungen, denen sich Bockelmann hingegeben hat, in Verbindung mit seinen Studien zur antiken Dichtung ihn zum Nachdenken darüber gebracht haben, daß unser Taktempfinden nicht mehr dem der Griechen entspricht. Das ist nicht neu. Aber Bockelmann entwickelt am Übergang zum heute üblichen Takt, der aus der steten Abwechslung von betonter und unbetonter Note (oder in der Poesie: Silbe) besteht, seine Theorie von der funktionalen Abstraktion, ohne zunächst die Ursache dafür zu nennen.
Das Buch geht also didaktisch rigide vor: Ein Phänomen wird isoliert, dafür eine Erklärung gesucht, und diese dann auf weitere Phänomene angewendet. Damit hängt alles am Takt. Deshalb heißt die Studie auch "Im Takt des Geldes". Zentral für die Argumentation ist die Annahme, daß Menschen vor Inkrafttreten der funktionalen Abstraktion andere Ton- oder Sprachfolgen als rhythmisch empfunden haben als heute. Das ist zweifellos so, darauf weisen alle Notationen älterer Musik oder die Akzente antiker Dichtung hin. Aber heißt das, daß der heute etablierte Takt damals als unrhythmisch empfunden worden wäre?
Darüber schweigt sich Bockelmann leider aus, aber er gibt eine bemerkenswerte Parallele an: die Perspektive. Vor der Renaissancemalerei war sie unüblich, weil das Verständnis von Malerei ein anderes war. Sie sollte nicht realistisch abbilden, sondern erzählen: über die Hierarchie im Himmel und auf Erden, die sich durch bloße Größenunterschiede besser begreiflich machen ließ als durch perspektivische Anordnung. Niemand brauchte perspektivisch exakte Kompositionen. Aber, hier wendet sich Bockelmanns Parallele gegen ihn, niemand hätte deshalb die Welt auch zu jenen Zeiten anders als perspektivisch gesehen. Kunst erfüllte metaphysische Aufgaben, aber der Blick auf die Welt erfolgte durch zwei Augen, die nicht anders konnten, als perspektivisch zu blicken.
Niemand wird je den Beweis führen können, ob es beim Takt genauso war, denn Ohren hören nicht zwangsläufig rhythmisch. Dichtete oder musizierte man in anderen Rhythmen, als man akustisch Takt wahrnahm? Bockelmann hält das für ausgeschlossen. Deshalb ist der Takt, wie wir ihn kennen, für ihn eine Errungenschaft der Moderne. Aber vorstellbar ist auch, daß das Taktgefühl vorher bestand, ohne daß es den Menschen notwendig erschien, es in ihre Musik zu übertragen - analog zur Perspektive in der Malerei. Eine Stärke von Bockelmanns Ansatz liegt darin, daß man diese Frage nicht entscheiden kann. Aber daß er sich auf eine Antwort festlegt, schließt die andere nicht per se aus.
Jedenfalls ist Bockelmann in seinen Augen der einzige Hellsichtige unter den Denkern, weil er den allem modernen Denken vorgängigen Mechanismus erkannt hat. Jeder Kritiker seiner Konzeption ist deshalb in dem gefangen, was ein älterer Herr, der die Welt auch nicht kapiert hat, als "Verblendungszusammenhang" bezeichnet. Unter Bockelmanns Prämissen klären sich aufs wunderbarste die von ihm in epischem Format ausgebreitete Geschichte der Wissenschaftstheorie, die Geschichte der Musik und auch - als guter Systematiker im Geiste Hegels stellt Bockelmann diese Ausführungen an den Schluß - die der Philosophie. Das ist, soviel sei zugestanden, bisweilen anregend zu lesen; es lohnt sich ja immer, alles tradierte Wissen einmal in Frage zu stellen. Doch als Essay hätten die Ausführungen mehr Überzeugungskraft entfaltet denn als Buch von Halbtausendseitenstärke, für das das darin als Motto angeführte Kierkegaard-Prinzip der Wiederholung formale Prägekraft beanspruchen darf.
Dazu hat Bockelmann sich einem Jargon verschrieben, der an Umständlichkeit seinesgleichen nicht hat. Fortwährend raunt der Autor, welch große Erkenntnisse noch folgen würden, und warnt den Leser, er werde seinem Verstand bald nicht mehr trauen. Dabei hat man nach der Hälfte des Buches das Prinzip spätestens verstanden, und von diesem Moment an ist die ganze Erwartungsrhetorik nur grotesk. Über diese Studie hinaus, die ihren Abschluß mit Leibniz erreicht, werden von Bockelmann weitere Arbeiten angekündigt, in denen bis hin zur leider immer noch nicht aufgestellten Allgemeinen Feldtheorie die Wirksamkeit der Prinzipien der funktionalen Abstraktion aufgezeigt werden soll. Dabei könnte man die von ihm isolierte Wirkung des dualistischen Denkens mit seinen Akzentverschiebungen und Rhythmen auch einfach auf eine altbewährte Formel bringen: "Eure Rede sei: Ja, ja. Nein, nein." Meine Rede ist: Nein, nein.
ANDREAS PLATTHAUS
Eske Bockelmann: "Im Takt des Geldes". Zur Genese modernen Denkens. Verlag zu Klampen!, Springe 2004. 511 S., Abb., geb., 36,- [Euro].
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