Queneaus Zazie als Ort kindlicher Schelmereien.
In ihrem neuen Roman "Im Schatten der Tage" verwandelt Cécile Wajsbrot die berühmte Pariser Untergrundbahn in ein mythisches Labyrinth, in dem sich das Leben dreier Menschen für immer verändern wird. Jason und Léna lernen sich eines Tages auf einer Fahrt der Linie 2, irgendwo zwischen Barbès und Monceau, kennen. Was wie ein romantisches Abenteuer beginnt, entpuppt sich bald als hindernisreicher Liebesparcours: Der unbeschwerte Jason schafft es nur unter größten Mühen, der scheuen Léna ihr Vertrauen zu entlocken. Stets umhüllt die schöne Unbekannte ein Schleier des Rätselhaften.
Lénas Geheimnis ist indes weniger spektakulär, als Jason zunächst vermutet. Sie kümmert sich tagein, tagaus um ihre kranke Mutter - ein Zustand, der sie nach und nach dem Leben entfremdet und zur Gefangenen innerhalb einer kleinen Wohnung in der Nähe des Parc Monceau gemacht hat. Daher beschränken sich die Rendezvous der beiden Liebenden anfangs auf die gemeinsamen Momente in der Metro - jeden Tag auf derselben Strecke. Die dritte Figur, die alsbald die Bühne, also in diesem Fall den Zug, betritt, ist Aniela, eine illegale bulgarische Einwanderin, der Jason aufgrund ihrer Verzweiflung Unterschlupf gewährt. Aniela verliebt sich in Jason, und so nimmt eine unheilvolle menage à trois ihren Lauf.
All das ist keineswegs neu. Tragische Dreiecksgeschichten sind so alt wie die Literatur selbst und wurden immer wieder aufs neue durchgespielt. Nicht das Handlungsgerüst verleiht dem Roman folglich seine Faszinationskraft, sondern vielmehr die Einzelschicksale der beiden Frauenfiguren, deren Innenleben Cécile Wajsbrot nüchtern und ohne falsches Pathos darstellt. Die romantischen Ideale von Aniela, deren größter Wunsch ein Leben in der französischen Hauptstadt darstellt, verflüchtigen sich im hektischen Alltag des realen Großstadtlebens. Eine bulgarische Emma Bovary, deren kindliche Naivität den Leser in all ihrer Unverbrauchtheit für sich einnimmt, flüchtet aus der Tristesse ihrer ländlichen Heimat und scheitert an einer nicht gelösten Metrofahrkarte. Die Banalitäten des Alltags triumphieren voller Hohn über die Träume von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
Léna hingegen erscheint zunächst als Opfer einer despotischen, ans Bett gefesselten Mutter, die das Leben ihrer Tochter vollständig für sich in Anspruch nimmt. Nach und nach wird allerdings sichtbar, daß Léna vielmehr eine Gefangene ihrer selbst ist. In tiefer Resignation hat sie sich im Laufe der Jahre ihrer tristen Lebenssituation ergeben, ohne eine Veränderung auch nur anzustreben. Im Moment der Wahrheit, als sie ihrer Mutter von ihrem Verliebtsein erzählt, zeigt diese wider Erwarten Verständnis, und Léna merkt, daß nur sie selbst die hohen Mauern um sich errichtet hat. "Sie war diejenige, die bremste, sie spürte es genau, das einzige Hindernis, das es gab, befand sich in ihr."
Der vierte Hauptdarsteller des Romans ist die Metro selbst. Cécile Wajsbrot bindet diesen Nicht-Ort auf raffinierte Weise in das Geschehen ein und macht die Untergrundbahn zum Emblem des flüchtigen, rastlosen Lebens in der Großstadt sowie zum Symbol einer entwurzelten Liebe, die keinen festen Ort hat, um wirklich zu sich zu finden. Die Schilderung des alltäglichen Lebens unter Tage spickt die Autorin mit mythologischen Versatzstücken; die Metro als Totenreich, als Labyrinth des Minotaurus; Jason als Orpheus, der gleich doppelt um seine Eurydike bangen muß - diese mythische Aufladung verleiht der Erzählung zusätzliche Dramatik. Doch dürfte Cécile Wajsbrot ihren Lesern durchaus mehr Kenntnis der antiken Stoffe zutrauen. So sind Subtexte viel zu explizit: "Er war Orpheus, aber er durfte sich nach ihr umdrehen." Solche direkten Vergleiche hat die Geschichte nicht nötig - sie wirken auf den Leser wie überflüssige Hinweisschilder auf Vorbilder, die ohnehin jeder kennt.
"Im Schatten der Tage" ist ungeachtet solch kleiner Schwächen eine komplexe Geschichte unerfüllter und unmöglicher Lieben, die geschickt zwischen klassischer Tragödie und einfühlsamer Gegenwartsepik changiert. Wie bereits in ihrem letzten, in dieser Zeitung vorabgedruckten Roman "Mann und Frau den Mond betrachtend" beweist Cécile Wajsbrot erneut großes erzählerisches Talent und schafft Figuren, die dem Leser noch lange Zeit in Erinnerung bleiben.
Zugleich ist der Roman ein behutsames Porträt einer durch Kontaktarmut, Idealverlust und Schnellebigkeit geprägten Gegenwart. Ohne den moralischen Zeigefinger einzusetzen, hält die Autorin ein nachdenkliches Plädoyer für das Innehalten, für ein stilles Verweilen in kurzen Augenblicken des Glücks inmitten einer erbarmungslos vorüberrauschenden Bilder- und Ereignisflut. Das klingt altmodisch, und das ist es in gewisser Weise auch. Doch angesichts der grellen und lauten Trends der französischen Gegenwartsliteratur der letzten Jahre hat das etwas unerhört Wohltuendes.
GREGOR SCHUHEN.
Cécile Wajsbrot: "Im Schatten der Tage". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller. Liebeskind Verlag, München 2004. 256 S., geb., 19,80 [Euro].
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