gedreht hat. Der Alligator ist ein schlafender Riese. Er sperrt sein Maul auf, ein Mann steckt seinen Kopf hinein. Er wischt sich, wie er das jedes Mal vor seiner Showeinlage tut, den Schweiß vom Gesicht. Ein Tropfen davon in den Rachen des Krokos und es schnappt zu. Hier liegt die Analogie zum atomaren Super-GAU. Nicht zu schwitzen oder seinen Schweiß unter Kontrolle zu halten ist die hauptsächliche Herausforderung für Alligatorendompteure wie für Kraftwerkbetreiber - vielleicht sogar für jeden.
Colleen löffelt Erdnussbutter und lümmelt auf dem Sofa ihrer Tante. Das Ganze im neufundländischen St. John's. Sie schaut Madeleines Archivmaterial am Fernseher durch und denkt: "Alles ist seltsam. Ein Seltsam reiht sich ans andere. Doch dann geschieht etwas Seltsames. Wir sind plötzlich nicht mehr im Kernkraftwerk, und da sind der Mann und der Alligator. Aber jetzt gibt es einen Begleitkommentar." Weshalb? Der Mann hat einen Fehler begangen. Er hat nur die eine Hälfte seines Gesichts abgewischt. Die andere Hälfte ist schweißnass. Es passiert vor laufender Kamera also das Unvermeidliche: ein Unfall, bei dem der Mann im Maul des Alligators feststeckend herumgeschmissen wird, als habe sein allerletztes Stündchen geschlagen. "Der lebt noch", sagt Madeleine, die plötzlich im Türrahmen steht. "Er hat eine Alligatorenfarm in Louisiana, in einem Naturschutzgebiet."
Colleen ist ein behütet aufgewachsener Teenager und stammt, wie die Autorin selbst, aus der kanadischen Provinz. Sie fällt dort nicht weiter aus der Rolle, ein kluges und ernsthaftes Mädchen mit ernsthaften Anliegen. Erst, nachdem ihr geliebter Stiefvater an einem Aneurysma stirbt und die Mutter sich in Trauerkontrolle übt, rebelliert etwas in ihr. Und die Rebellion beginnt wie das Atom-Schulungsvideo mit einem Tier. Colleen hatte den neufundländischen Fichtenmarder schützen wollen und Zucker in die Bulldozertanks des Bauunternehmers Duffy gefüllt. Der Vorfall bringt sie vor Gericht. Ihre Mutter sieht freilich nicht die Vandalin in ihr, als die sie sich nun verantworten muss: "Colleen war eigensinnig und bezaubernd. Sie war über Nacht schön geworden, große blaue Augen, volle Lippen, langes, glänzendes Haar. Ihre maßlose, bebende Empathie, ihr Beharren auf Gerechtigkeit im Leben." Aber gerade, weil es eine auf moralischen Alltagsurteilen basierende Gerechtigkeit nicht wirklich zu geben scheint, provoziert Colleen ihre Umwelt zunehmend mit dem Gegenteil.
Bei einem Wet-T-Shirt-Contest gewinnt sie den ersten Preis und beschließt von dem Geld nach Louisiana zu fliegen, um dort den Alligatorendompteur Loyota zu besuchen. Zuvor hat sie den vom Schicksal gebeutelten Hotdog-Verkäufer Frank über den Tisch gezogen, ihm nach einer Liebesnacht die gesamten Ersparnisse aus der Zuckerdose gestohlen und ihn belogen. Doch für Annäherungen lässt Lisa Moore ihren Figuren wenig Entwicklung. Denn, wie gesagt, stecken alle in der Momentaufnahme ihres Lebens, die Moore uns präsentiert, im Rachen des Alligators.
Anders als Colleen, die Ungerechtigkeiten nicht hinnehmen will, und als Protestreaktion selbst welche produziert, hat Frank gelernt, sie als normal zu betrachten. In einer grotesken Krankenhausszene beschreibt Moore, wie Franks krebskranke Mutter mit letzter Kraft einen Zug aus einem Strohhalm nimmt und dabei in Zittern ausbricht. Man denkt, es geht mit ihr zu Ende, doch bald schon entpuppt sich das Zittern als Lachanfall, in den der Sohn mit einstimmt. Später wird Frank, der eine Konzession als Würstchenverkäufer an einer Straßenecke von St. John's erworben hat, von einem russischen Gangster abgezogen. Er dringt nicht nur in seine Wohnung ein, sondern verstreut darin auch die Asche seiner Mutter. Doch Frank ist schicksalsergeben, "er hatte verstanden, dass die Dinge so liefen, als er mehrmals, wenn auch nur kurz, Gast im Whitebourne Correctional Institute for Juvenile Delinquents gewesen war, wegen einer Reihe von Ladendiebstählen, die er mit vierzehn begangen hatte."
Frank arrangiert sich mit dem Gangster und wird später dennoch um ein Haar von diesem umgebracht. Valentin heißt der unglückselige Russe, der janusköpfig zwischen der fürsorglichen Vaterfigur und dem skrupellosen Mörder changiert. Auch seiner Lebensgeschichte räumt Lisa Moore ein paar Kapitelbetrachtungen ein. Sie macht es einem dabei schwer, ein Urteil über ihren Delinquenten zu fällen. Der Mann ist gefährlich, aber er hat Gründe, und mit gutem Willen kann man sogar so etwas wie ein soziales Gewissen in ihm erkennen. Als er etwa das Haus einer depressiven Schauspielerin ("Endstation Sehnsucht") niederbrennt, um die Versicherungssumme zu kassieren, will er das auch als Neuanfang für seine Geliebte verstanden wissen: "Er wollte ihr zeigen, dass Veränderung möglich war."
Lisa Moore skizziert in ihrem Debüt die krummen Lebenswege einer kleinen Gruppe von Pechvögeln aus St. John's nach dem Short-Cuts-Prinzip. Sie bringt sie in einen unaufdringlichen Zusammenhang. Erst dadurch werden Neuanfänge und Formationen denkbar. Aber diese müssen gar nicht wirklich erzählt werden. Moore arbeitet impressionistisch. Sie liefert uns kein Happy End, nur die Zuversicht, dass das Leben ihrer Romanfiguren weitergeht. "Die leben noch", könnte Auntie Madeleine gesagt haben. Sie ist die einzige, die (in einem Sessel der Heilsarmee) einem Herzinfarkt erliegt. Vom Rest der Bande ist zu vermuten, dass sie auch weiterhin an Alligatoren mit scheunentorgroßen Mäulern vorbeitaumeln werden. Allerdings nun mit dem Wissen, dass man dabei nicht allzu leicht ins Schwitzen geraten sollte. Es sind doch anmutige Tiere.
KATHARINA TEUTSCH
Lisa Moore: "Im Rachen des Alligators".
Roman.
Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Hanser Verlag, München 2013. 252 S., geb., 22,90 [Euro].
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