inzwischen die einundvierzigste Auflage erreicht.
Doch Büchmann wollte nicht bloß dokumentieren, er wollte auch Politik machen. Ein gelungenes Beispiel für Performativität gibt der Kommentar, mit dem er 1872 seinen Neueintrag versah: "Das Kanzlerwort wird schwerlich untergehen." So klingt es, wenn ein deutscher Gelehrter seinem Herzen Luft macht. Neuere Auflagen des Büchmann begnügen sich dagegen mit dem erläuternden Hinweis, Bismarck sei tags zuvor von einer Bekannten auf die Canossaszene angesprochen worden, die sie in einem Geschichtsbuch gefunden habe. Doch die anekdotische Version ist verharmlosend. Sie verschweigt den politischen Zusammenhang, der Georg Büchmann noch klar vor Augen gestanden und der einst seinen Ersteintrag für die Zeitgenossen als Positionsbeschreibung erkennbar gemacht hatte: den Zusammenhang des gleichfalls Anfang der siebziger Jahre durch Rudolf Virchow zu seinem Begriffsnamen gekommenen "Kulturkampfes".
Nicht nur Bücher, auch Worte haben ihre Geschichte, zumal dann, wenn sie "geflügelte Worte" heißen. Der Büchmann, der sie seit knapp hundertfünfzig Jahren zusammenträgt, beschränkt sich zumeist auf die Angabe der Fundstellen und Erstbelege. Ergänzend dazu erzählt jetzt Christoph Müller rund zwei Dutzend Geschichten, in denen die Flugbahnen ausgewählter Motive exemplarisch festgehalten sind: Angefangen bei den Würfeln, die gefallen sind, über den Knoten, der durchschlagen sein will, bis hin zum Zankapfel oder "Apfel der Zwietracht", der selbst die Götter in Streit geraten läßt. Müller ordnet seine ursprünglich als Artikelserie erschienenen Motivgeschichten alphabetisch, doch dem Handbuch, das der Büchmann immer sein wollte, macht er keine Konkurrenz. Müller schreibt für Leser, und der immense Arbeitsaufwand, den seine detaillierte Bibliographie nur eben andeutet, verschwindet unter der Oberfläche einer unangestrengten, angenehm lesbaren Prosa.
Dabei sind die Gegenstände so anspruchsvoll wie komplex. Müller gibt nicht nur die Ursprungserzählungen in ihren Varianten wieder, sondern berichtet auch über Deutungsveränderungen, Forschungsdebatten, Instrumentalisierungen. Man erfährt die näheren Umstände, die während der Schreckensherrschaft in Paris zur Erfindung des "Vandalismus" führten, und daß die Vandalen selbst eher zur Zurückhaltung neigten, ja sogar der spanischen Region Andalusien zu ihrem Namen verhalfen.
Ähnlich erstaunlich verlief die Rezeptionsgeschichte des Canossagangs, dessen rhetorisches Potential gleichfalls erst die Aufklärer entdeckten und kirchenkritisch einsetzten. Einmal enthistorisiert, war das Motiv nun vielfältig verwertbar, und kam Jahrzehnte später in den Reichstag und auch wieder hinaus. Als 1886 Fontanes Roman "Cécile" erschien, fand sich darin eine mehrseitige Plauderei über das bereits legendäre Bismarck-Wort. Ohne weiteres ist die Reisegesellschaft sich einig, daß nun doch nach Canossa gegangen werde, nach Canossa und noch weiter. ",Das heißt also', ergreift ein Geheimrat Hedemeyer das Wort, ,bis nach Rom. Es sind dies die natürlichen Folgen der Prinzipienlosigkeit oder, was dasselbe sagen will, einer Politik von heut' auf morgen, des Gesetzmachens ad hoc. Ich hasse das.' Die Baronin, die sich in dieser Wendung zitiert glaubte, klatschte mit ihren zwei Zeigefingern Beifall." Schade eigentlich, daß die Allergnädigste das Werk von Müller nicht gekannt hat. Zweifellos hätte sie es in ihre vornehme Begeisterung mit einbezogen.
RALF KONERSMANN
Christoph Müller: "Ikarus fliegt weiter". Ursprung und Rezeption geflügelter Worte und Sprachbilder. Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2001. 232 S., 73 S/W-Abb., 8 Farbtaf., geb., 49,80 DM.
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