dem, was unbeobachtet existiert, kommunizieren."
Wer mit den alten Kracauers auf Reisen gehen möchte, ist mit dem schönen, von Julia Amslinger und Kyra Palberg herausgegebenen Buch bestens bedient. Die beiden Literaturwissenschaftlerinnen stellen Kracauers Reiseaufzeichnungen aus Europa aus den Jahren 1960 bis 1965 vor, kombiniert mit einem Bildteil und einem umfangreichen Anhang. Das Material entstammt dem Konvolut "Reisenotizen" im Nachlass Kracauers im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Das Buch ähnelt dem Katalog einer Ausstellung und vermittelt Einblicke nicht nur in Kracauers bewegtes Leben, sondern in seine eigentümliche Art, den Reisealltag zu organisieren.
Kracauer fertigte fortwährend, wo er auch saß, stand oder ging, Skizzen an - literarische Reflexionen, kleine Impressionen, Nahaufnahmen und Gesprächsaufzeichnungen. Sein Reisezettelkasten stand - das möchten die Herausgeberinnen zeigen - durchaus in engem Bezug zum Spätwerk des philosophischen Autors, das in sein geschichtstheoretisches Buch "History - The Last Things before the Last" mündete.
1941 hatten die Kracauers, von Paris kommend, über Marseille und Lissabon sich im letzten Moment vor den Deutschen retten können. Lange mussten sie in New York darauf warten, ihre alte Heimat wiederzusehen. Nun, zwischen 1956 und 1966, nachdem sie sich einigermaßen konsolidiert und alle Schulden getilgt hatten, reisten die Eheleute im Sommer immer wieder nach Mailand, Venedig, London, Athen oder Zürich. Auch in die Heimatstadt Frankfurt und nach Berlin, wo Kracauer als Redakteur der Frankfurter Zeitung zwischen 1930 und 1933 Furore gemacht hatte, kamen sie. Immer waren Paris und die Schweizer Berge, wo sie ihren Urlaub verbrachten, Teil der Route.
Der eigentliche und professionelle Zweck aber waren die Begegnungen mit Größen der Geisteswissenschaften, um im Auftrag einer amerikanischen Stiftung Projekte zu sondieren und Standpunkte, Bedürfnisse, Dringlichkeiten zu evaluieren. Der Consultant nutzte die Gespräche zudem, um über seine eigene Arbeit am Geschichtsbuch zu diskutieren, so mit Isaiah Berlin, Herbert Butterfield oder Werner Kaegi. Und nicht zuletzt trafen die Kracauers alte Bekannte und Freunde wie André Malraux und Daniel Halévy, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno.
Wir bestaunen eine filigrane Reise-Choreographie, die im Gegensatz zur Spontanität und Improvisationslust des Autors Kracauer stand, der doch die Zufälligkeiten suchte und sich von ihnen inspirieren ließ. Bis ins Detail waren die Reisen vorbereitet - ein durchgeplantes Paket also, das ein pedantisches Mikromanagement offenbart. Kracauers penible Inventarlisten lassen Adornos Charakterisierung des Freundes als "wunderlichen Realisten", die seine Philosophie meinte, in einem weiteren, nämlich profanen Licht erscheinen. Die präsentierten Notizen sind natürlich vom Autor selbst schon geordnet worden. Auf einem dieser Zettel steht "Beginn der Autobiographie" - ein Plan, den Kracauer schon während der Flucht aus Europa hegte. Dazu ist es nicht gekommen. Nun aber ist in Form dieser Zettelwirtschaft eine Art Physiognomie des alternden Geisterfahrers der Ideengeschichte im zwanzigsten Jahrhundert zu besichtigen.
Die Reisenotizen sind in Englisch, selbst wenn das festgehaltene Gespräch zuvor auf Deutsch geführt worden war. Manchmal verfiel Kracauer in Denglisch: "Vertrottelt mad" nennt Lili, die in diesem Buch deutlicher als bisher sichtbarer wird, einen Bekannten. Das Paar sprach offenbar weiterhin Deutsch miteinander, während der Schriftsteller Kracauer sich konsequent ans Englische hielt. Er schrieb "Cologne" und "Zurich" - aber doch, wenn es um seine Heimatstadt ging, "Frankfurt".
Die Aufzeichnungen haben durchaus Neues zu bieten. Beim berühmten Gespräch in Bergün/Graubünden mit Adorno - eher ein Duell - war auch Adornos Frau Gretel beteiligt. Als einzige der vielen Konversationen tippte Kracauer sein handschriftliches Protokoll später ab und transformierte es in einen dialogischen "Talk mit Teddie". Damit spitzte er eine komplexe Gesprächssituation zu und glättete sie zugleich. Zudem wird überdeutlich, wie sehr ihm Max Horkheimer zuwider war. Das überaus hässliche Porträt verdeutlicht die vielen Kränkungen, die ihm der Direktor des "Instituts für Sozialfälschung" zugefügt hat. Von den Gesprächen mit dem alten Freund Bloch hielt Kracauer vor allem dessen Erfahrungen in der Ostzone detailliert fest, die jedoch Blochs Philosophie nicht verändert hätten: "Wie der Weihnachtsmann wirft er alle Dinge dieser Welt in seinen riesigen Geschenkesack und überreicht sie uns als Zeichen für die unstillbare Sehnsucht des Menschen nach Utopia." Trotz des spöttischen Tons: Für den alten Haudegen, der ihm politisch immer fremder wurde, hegte er warme Empfindungen.
Um ihre Funde herum platzieren die Herausgeberinnen Gedanken, die ihnen beim Berühren, Beschnüffeln und Belauschen der Funde über den Autor Kracauer gekommen sind - über Schreiben und Sterben, das Leben in ärmlichen Verhältnissen, über den Zeitgeist der Sechziger, der den Gesprächen zu entnehmen sein könnte. Schließlich überlegen sie, was die Reisenotizen mit Kracauers Filmtheorie und dem Geschichtsbuch zu tun haben.
Kracauer war ein teilnehmender Beobachter, der sich gleichwohl nicht als zugehörig empfand - er nannte sich einen exterritorialen Intellektuellen. Bereits im französischen Internierungslager 1940 hatte er ähnliche impressionistische Notizen verfasst. Und seine Beobachtungen in der Welt der Berliner Angestellten um 1930 bezeichnete er als "ethnographische Studien". Aus der empathischen Exterritorialität entstand jene eindrückliche Spannung, die seine Prosa erzeugt. Dieser Fremde war ein durch und durch neugieriger Mensch, ein unabhängiger Theoretiker auf Augenhöhe mit kanonischen Autoren der Geistesgeschichte. Das Buch zeigt ihn aber auch als schrulligen Listenschreiber, Tabellenliebhaber, Materialordner, Kostenkalkulierer. Kracauer bastelte für die Reiseplanung großformatige Faltkalender, die er mit Buntstiften gestaltete. Das Umherziehen war eine Daseinsform, die vom eigenen Reisebüro gestaltet wurde.
Walter Benjamin hat Kracauer gegen Ende der Weimarer Republik einen "Lumpensammler im Morgengrauen des Revolutionstags" genannt. Ein Revolutionär war er nicht, jedenfalls nicht politisch, aber doch ein Sammler, der nichts wegwirft. Diese messianische Marotte ist in dem ästhetisch geglückten Buch ausgestellt. Viele Notizen sind natürlich belanglos - sie wurden anders als beim narzisstischen Adorno sicherlich nicht geschrieben, damit sie später veröffentlicht werden sollten. Falten, Bärte und Kleidungen - um solche Dinge geht es oft. Kracauer war wie Benjamin ein Physiognomiker. Zuweilen blitzt der kaustische Humor Ginsters beim alten Kracauer auf. Dann freut man sich. Fast schade, dass Kracauer sich nicht beim Beobachten beobachtet hat.
Siegfried Kracauer: "Ideas, Talks and Some Scattered Observations". Aufzeichnungen aus Europa (1960 - 65).
Hrsg. v. J. Amslinger und K. Palberg. Konstanz University Press, Göttingen 2022. 191 S., Abb., geb., 26,- Euro.
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