mit den Bergen von Tabletten mit üblen Nebenwirkungen zu tun, aber auch mit Versteckspiel, Ächtung und Isolation.
Nachdem sich Almut Niemeyer bei der Arbeit im Krankenhaus infiziert hat, vergeht etwa ein Jahr, bis die Infektion bei einer Blutspende festgestellt wird - die Nachricht kommt ein paar Tage vor Weihnachten 1990. Die Kinder sollen unbeschwerte Festtage haben, so die erste Reaktion der Eheleute. Und als ein paar Wochen später auch Dieters Infektion diagnostiziert wird, beschließen sie, um der Kinder willen, niemandem von der Infektion zu erzählen. Denn anders als etwa Krebs ist Aids bis heute keine gesellschaftlich akzeptierte Krankheit - und zu Beginn der neunziger Jahren war die Hysterie gerade auf dem Gipfel. Jede Infektion eines Prominenten ging durch die Presse, verbunden mit Spekulationen über dessen Lebenswandel.
Aids, so die Wahrnehmung des Autors, ist eine unanständige Krankheit. Die ausgemergelten Gestalten mit Alkoholfahne vor der Aids-Hilfe und in der Praxis des einzigen "Aids-Arztes" der Stadt verstärken noch Niemeyers Gefühl, im falschen Film zu sein: "Denn das alles bin ich nicht." Das ist nicht seine soziale Schicht, nicht die Welt, aus der er kommt. Wenn "das" herauskommt, so die Befürchtung der Eheleute, wird man sie verurteilen, und man wird die Kinder ausgrenzen. Also schweigen sie achtzehn Jahre lang.
Obwohl die Krankheit nicht ausgebrochen ist, wirft sie lange Schatten: Die Leistungsfähigkeit sinkt, Infektionen aller Art häufen sich, dazu die Nebenwirkungen der über zwanzig Tabletten am Tag. Beim Spülen fallen die Teller aus der Hand. Doch wer seiner Umwelt vorspielt, gesund zu sein, darf keine Schwäche zeigen. Frau Niemeyer schleppt sich mit Fieber zur Arbeit, damit sich die Kolleginnen nicht wundern, wenn sie zu oft fehlt. Herr Niemeyer macht Umwege auf dem Weg zur Arztpraxis, die Familie zieht in eine neue Umgebung, isoliert sich, bricht fast alle Sozialkontakte ab. Trotz allem bemühen sich die Eheleute, den glücklicherweise nicht infizierten Kindern eine normale Kindheit zu ermöglichen. Ein Versuchsballon bestärkt sie in ihrer Haltung: Die Mutter der besten Freundin der Tochter verlangt eine schriftliche Bestätigung, dass die Tochter nicht infiziert ist, nachdem sie ins Vertrauen gezogen wurde.
Als die Eheleute auf dem Gipfel der Verzweiflung - Dieter Niemeyer ist inzwischen auch noch an Krebs erkrankt - dessen Schwester fragen, ob sie die Kinder im schlimmsten Falle aufnehmen würde, werden sie von deren Reaktion schockiert: Sie wolle die Kinder nur sofort adoptieren und dann den Kontakt abbrechen. Versuche, beim Jugendamt Unterstützung zu bekommen, scheitern ebenfalls: "Sie wollen also ihre Kinder abgeben?", fragt der Mitarbeiter, um dann auf die entsetzte Ablehnung hin eine Kunsttherapie zu empfehlen.
Dieter Niemeyer hadert auch mit seiner beruflichen Situation: Hatte er nach der Geburt des ersten Kindes eingewilligt, eine Zeitlang die Rolle des Hausmanns zu übernehmen, sieht er sich nun in der Karrierefalle: Einen neuen Job zu beginnen, in dem zumindest in der ersten Zeit hoher Einsatz gefordert ist, traut sich der gelernte Betriebswirt körperlich nicht mehr zu. Zum Frust des einzigen Mannes auf dem Spielplatz kommt noch der Ärger über die Behandlung durch Krankenkasse und Berufsgenossenschaft: Die Infektion seiner Frau gilt als Berufskrankheit, seine dagegen nur als "mittelbare Unfallfolge". Das äußert sich in deutlichen Qualitätsunterschieden in der Behandlung. Für seine Frau bezahlt die Berufsgenossenschaft eine Behandlung, die der eines Privatpatienten entspricht, er bleibt ein gewöhnlicher Kassenpatient. Seine Frau bekommt die Fahrten zum Spezialisten in Hamburg bezahlt, für ihn reicht der Arzt in der Heimatstadt. Untersuchungen, die für sie selbstverständlich sind, lehnt die Krankenkasse bei ihm ab.
Niemeyer beginnt zu kämpfen, richtet sich ein Büro ein, legt Akten an. In diesem Teil des Buches tritt die Beziehung zu Frau und Kindern zurück hinter den Kampf gegen die Institutionen. Das Sozialgericht weist seine Klage ab, die nächste Instanz rät ihm, seine Frau strafrechtlich zu verklagen. Es folgen Petitionen beim Bundestag, Briefe an den zuständigen Abgeordneten. Doch erst als Niemeyer mit der Presse droht, gibt es erste Reaktionen. Am Ende gelingt es ihm, seinen Anspruch auf die gleiche Behandlung durchzusetzen. Wobei alle Verantwortlichen eilig versichern, es handle sich nur um eine Einzelfallregelung. Wie ein Kranker, dem die Energie Niemeyers abgeht, seine Rechte durchsetzen soll, bleibt offen.
Durch Niemeyers Aktivismus sind inzwischen andere Stellen auf ihn aufmerksam geworden. Das Ehepaar beginnt, sein Geheimnis zu lüften: zuerst gegenüber den inzwischen volljährigen Kindern, der alten Mutter, dem Motorradclub und später vor großem Publikum, bei einer Pressekonferenz der Klinik, dann bei Beckmann im Fernsehen. Nun sind die Reaktionen durchweg positiv. "Die, die uns nicht mögen, halten vermutlich einfach die Klappe", so Niemeyer.
Ob es klüger gewesen wäre, das Schweigen früher zu brechen? Sicher nicht, vor allem wegen der Kinder, sind sich die Niemeyers bis heute einig. Heute kämpfen sie offen dafür, das schiefe öffentliche Bild von Aids geradezurücken, das noch immer so unglücklich zwischen Verharmlosung und sozialer Ächtung schwankt.
MANUELA LENZEN.
Dieter Niemeyer: "Ich muss euch etwas sagen". Unser Leben mit dem Virus. Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2009. 221 S., geb., 16,99 [Euro].
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