seine "Revolution" bestenfalls in einer Reform des Kapitalismus bestehe, die an den Einkommens- und Produktionsverhältnissen nicht das geringste ändere. Zwar bescheinigen sie ihm, daß mit der - auf sein Betreiben verabschiedeten - neuen "bolivarischen" Verfassung die einfache Bevölkerung stärker als früher am politischen Leben beteiligt wird, die grundlegenden Entscheidungen würden jedoch nach wie vor von einer "Machtelite" getroffen, also von niemand anderem als Chávez selbst und seiner Entourage.
Das "linke" Gehabe von Chávez speist sich vor allem aus seinem obsessiven Antiamerikanismus und seiner Aversion gegen die neoliberale Politik der neunziger Jahre, was fälschlicherweise mit einer "antikapitalistischen" Einstellung gleichgesetzt wird. Auch wenn Chávez auf Washington und den amerikanischen Präsidenten Bush schimpft, macht er doch gut geölte Geschäfte mit den Vereinigten Staaten nach bester Kapitalistenart. Mit seinem Plan, seine "Revolution" in andere lateinamerikanische Länder weiterzutragen, ist Chávez bisher nur bis Bolivien gekommen. Dort fand er in dem Präsidenten Evo Morales allerdings einen besonders gelehrigen Adepten.
Wer Chávez als "Galionsfigur des lateinamerikanischen Linksrucks" bezeichnet, läßt schon damit erkennen, daß er unkritisch auf der Seite all derer steht, die an eine Wiederbelebung der einstigen "Linken" in Lateinamerika durch die Erweckungsgestalt Chávez glauben. Die meisten arglosen Beobachter geben sich damit zufrieden, dem dank seiner Weitsicht, Kaltblütigkeit und Gerissenheit derzeit einflußreichsten und umstrittensten Politiker Lateinamerikas ein untaugliches Etikett anzuheften. In die Falle einer derart an der Oberfläche haftenden Beschreibung des Phänomens Chávez ist der Autor eines Buches getappt, das nichts weniger als "eine Biographie" von Chávez sein will.
Nach den Jahrzehnten, in denen das im frühen Erdölboom reich gewordene Venezuela von der traditionellen politischen Kaste regelrecht ausgeplündert wurde, war das Erscheinen einer Erlöserfigur, die für eine Verbesserung der Lage der völlig vernachlässigten und verarmten unteren Bevölkerungsschichten eintritt, nahezu unausweichlich. Doch auf die entscheidende Frage, warum ausgerechnet Chávez diese Rolle zufiel, bleibt das Buch des Journalisten Christoph Twickel eine Antwort schuldig. Es enthält nur spärliche Angaben über Chávez' Herkunft, Jugend und frühe Entwicklung und hangelt sich an Begebenheiten der jüngeren venezolanischen Geschichte entlang, die für Chávez' Weg an die Macht bedeutsam waren oder die er aktiv beeinflußte, wie etwa seine beiden gescheiterten Putschversuche.
Bei alledem erscheint Chávez schon gewissermaßen als "fertiger" Revolutionär, der alle Regeln konspirativen Verhaltens beherrscht, der sein Privatleben in den Dienst an der vorgeblichen Rettung des Vaterlandes stellt und der selbst Liebschaften im Zweifel mit Vorwänden, Ausflüchten und Lügen dem verschwörerischen Tun opfert. Statt die auch in anderen Quellen gut dokumentierten Ereignisse wie den "Caracazo", den Sozialaufstand in Caracas von 1989 und seine blutige Niederschlagung, oder den gescheiterten "Staatsstreich" von 2002, mit dem die Opposition Chávez stürzen wollte, ausführlich zu beschreiben, wäre es für eine Biographie zweckmäßiger gewesen, wenn Twickel wenigstens versucht hätte, ein Psychogramm des neopopulistischen Präsidenten zu entwerfen. Das hätte gezeigt, wie sich Chávez allein wegen seiner unbestreitbaren Talente als Volksredner, Alleinunterhalter, Störenfried und Rechthaber an die Spitze des Staates katapultiert hat und mit allen Mitteln seine Führerposition verteidigt. Chávez hat eine Reihe von Methoden entwickelt, für ihn widrige Vorgänge schönzufärben, zu verdrängen oder gar nicht wahrzunehmen. Auf Niederlagen wie etwa jüngst in den UN reagiert er mit noch größerer Kraftmeierei, indem er etwa Venezuela zu einer "Weltmacht" hochredet. Ohne stichhaltige Beweise dafür vorzulegen, behauptet er in regelmäßigen Abständen, seine Widersacher trachteten ihm nach dem Leben.
Schon daraus ist zu ersehen, daß Chávez in allererster Linie seine Person meint, wenn er "Venezuela", "Revolution" und "Simón Bolívar" sagt, als dessen Reinkarnation er sich versteht. Es wäre spannend, in einer wirklichen "Biographie" zu erfahren, wie sich eine derart narzißtische Persönlichkeit herausgebildet hat. In Ansätzen werden einige charakteristische Eigenschaften des venezolanischen Präsidenten sehr wohl erkennbar. Aber für den Leser ist es mühsam, sich trotz des lebendigen und anschaulichen Stils aus den einzelnen Episoden ein Gesamtbild von Chávez zu formen. Immerhin wird deutlich, in welch großem Maß Chávez' militärische Karriere, die freilich nicht über den Rang eines Oberstleutnants hinausgekommen ist, sein Verhalten bestimmt. Seine politischen und sozialen Projekte nennt er "Missionen" oder "Kommandos", als handle es sich um militärische Manöver. Sein Neo-Bolivarismus, den er als reine Lehre verkauft, ist keine kohärente Doktrin, sondern ein Sammelsurium aus angelesenen Zitaten und rhetorischen Versatzstücken, in beliebiger Mischung zelebriert wie seine frei assoziativ vorgetragenen Gedanken, seine Possen und Ausfälle in seinen stundenlangen Reden.
Manche Begleiterscheinungen des "chavistischen" Venezuela, wie etwa die ausufernde Korruption, die Chávez gelegentlich sogar selbst anprangert, ohne etwas gegen sie auszurichten, bleiben in dem Buch weitgehend ausgeblendet. Immerhin wird der hohe Unterhaltungswert der allsonntäglichen Fernsehsendung "Aló Presidente" (Hallo, Präsident) ausgiebig gewürdigt, die für Chávez Ersatz für alles ist, für Kabinettsitzungen, Konferenzen, Unterhaltungsshows und Kultveranstaltungen. Das Buch von Christoph Twickel ist gleichfalls vieles und von allem ein bißchen: Reportage, politische Analyse, Essay. Leider keine Biographie, aber es enthält so viele Daten, Fakten, Anekdoten und Details, daß sich sehr gut daraus eine machen ließe.
JOSEF OEHRLEIN
Christoph Twickel: Hugo Chávez. Eine Biographie. Edition Nautilus, Hamburg 2006. 352 S., 19,90 [Euro].
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