Vergangenheit und Geschichte in uns, als wir uns selbst zutrauen", sagt John von Düffel. Oft auch mehr, als wir wahrhaben wollen.
In seinem neuen Roman "Houwelandt" geht es Düffel weniger um äußerliche Ähnlichkeit oder die erblich bedingte Ausdauer gewisser Marotten. Solche Merkmale dienen ihm vielmehr dazu, nach tiefer liegenden, weniger greifbaren Gemeinsamkeiten zu suchen. Für seine zeitgemäße Version des Familienromans läßt er vier Personen in eigenen Kapiteln abwechselnd zu Wort kommen: Jorge de Houwelandt, seine Frau Esther, ihren Sohn Thomas sowie den Enkel Christian. Die offensichtliche Zerklüftung des Houwelandt-Clans hat ihren Ursprung in der Gestalt Jorges, aber erst in den einzelnen Perspektiven der Beteiligten tritt sie in ihrer ganzen Drastik zutage.
Auch in diesem, seinem vierten Roman ist gleich zu Beginn die Rede vom Wasser, dem Element, dem sich John von Düffel im wahrsten Sinne verschrieben hat. Jorge, der geradezu krankhaft rüstige, unerbittliche Patriarch der Houwelandts, überwindet jeden Morgen im Meer den inneren Schweinehund und findet dadurch zu einer Ruhe, die eher einer Betäubung ähnelt. Sein bevorstehender achtzigster Geburtstag zwingt die Familie dazu, sich nach einer langen, uneingestandenen Eiszeit wieder miteinander zu beschäftigen - eine für jeden von ihnen entsetzliche Vorstellung.
Jorge weigert sich hartnäckig, vereinnahmt zu werden, allerdings nur insgeheim: "Er konnte die Feier noch immer absagen. Er war das Familienoberhaupt. Wenn er nicht wollte, würde sein Geburtstag nicht stattfinden, alle würden bleiben, wo sie waren." Einige Schwimmzüge weiter steht sein Entschluß fest: "Es würde keinen Geburtstag geben, und erst recht nicht, wenn es, wie Esther betonte, sein achtzigster war." Seine Frau derweil hat längst beschlossen, ihm ein Fest auszurichten, komme, was wolle, und dazu die Familie nicht nur zusammenzuführen, sondern auch auszusöhnen. Ihr Sohn Thomas, der so tut, als würde er den Familiensitz in Norddeutschland verwalten, seit seine Eltern nach Spanien, ans Meer, gezogen sind, ist entgeistert und überfordert von der mütterlichen Aufforderung, eine Rede auf seinen Vater zu halten: "Er haßte seinen Vater nicht. Er haßte es nur, sein Sohn zu sein."
Ähnliches empfindet sein Sohn Christian ihm gegenüber, auf den er die lästige Pflicht abzuschieben sucht: Für ihn als Rundfunkjournalisten dürfte eine solche Ansprache doch ein Kinderspiel sein. Für Christian wiederum kommt das Anliegen zu einem denkbar empfindlichen Zeitpunkt. Just hat er seiner Frau, der ehrgeizigen Anwältin Ricarda, seinen Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit eröffnet: "Ich will ein Kind mit dir." Doch statt der erwarteten Begeisterungsstürme ist sie skeptisch und vertröstet ihn Tag für Tag. Ihr Zögern bringt Christians fragiles Selbstbild völlig ins Wanken. Erstmals fragt er sich, ob er überhaupt ein guter Vater wäre, und muß sich seinem Verhältnis zu seinem eigenen Vater stellen, einem Mann, dessen Schwäche und Lebensuntüchtigkeit ihn schon als Kind erschreckten.
Vor allem die drei Generationen der Männer, Vater, Sohn und Sohnessohn, sind in der Fremdheit der Houwelandts gefangen. Aber auch die Frauen und Mütter können keine Vertrautheit herstellen - oder gar bewahren. Die Beklemmung, die von dem kühlen, Disziplin mit Distanz in eins setzenden Wesen Jorges ausgeht, hat längst die ganze Familie erfaßt, deren Mitglieder alle auf ihre Weise versuchen, Erinnerung, Pein, Schwäche und Zweifel zu bezähmen. Was bleibt, ist eine konstante Verunsicherung, ein unterschwelliger Schmerz: "Christian konnte nicht mehr, er hatte sich überschätzt. Was eine Familie wert war, zeigte sich nicht in den Erfolgen, die der eine oder andere vozuweisen hatte, sondern in ihrem Umgang mit dem schwächsten Glied in der Kette. So gesehen, war es um seine Familientauglichkeit nicht zum Besten bestellt."
Wie eine Spinne hockt mitten in diesem Netz aus unausgesprochenen, verdrängten Beziehungen das sogenannte Familienoberhaupt. Insbesondere die Charakterstudie Jorge de Houwelandts ist Düffel gelungen, was auch daran liegen mag, daß er ihn als manischen Schwimmer schildert. Doch die Klarheit, die Düffel selbst dem Sport, zumal dem Schwimmen, immer wieder angedichtet hat, stellt sich bei Jorge kaum mehr ein. Längst ist das Meer ihm zu einer Droge geworden, ohne die er die Tage nicht überstehen kann, denn das Wasser steht ihm bis zum Hals. Erinnerungen an seine Kindheit drohen ihn zu übermannen, und er fürchtet, den jahrzehntelang aufgestauten Schmerz nicht mehr im Zaum halten zu können. Während die Versteinerung, die jeden Tag seines Lebens zugenommen hat, ihn endgültig zu überwältigen droht, bekommen seine Frau, sein Sohn und sein Enkel unerwartet Gelegenheit, jeder für sich den gepanzerten Kokon aufzubrechen.
Vor allem aber gibt Jorge dem Autor Gelegenheit, nach zwei schwächeren Romanen endlich wieder Sätze von jener kalten, lautlosen Sinnlichkeit zu schreiben, wie sie schon sein Debüt "Vom Wasser" (1998) auszeichneten: "Das Wasser war flüssiges Glas, farblos vor Frühe. Durch die Tanggärten strich schon der Herbst. Der Gedanke an Sauerstoff durchzuckte ihn, doch es war nur ein Reflex wie vor dem Einschlafen - schon vorbei. All seine Sinne richteten sich auf das bodenlose Blau, das sich unter ihm auftat, und die hinaufdrängende Tiefe. Sie hatte ein so weiches Fell. Jorge war überwältigt von dem Gefühl des Entronnenseins auf der Haut. Wie jeden Morgen."
Trotz der streckenweise bemüht wirkenden perspektivischen Konstruktion, und obwohl wir es erneut mit einem für Düffel zwar typischen, aber deshalb nicht sympathischeren Held der Selbstdisziplin zu tun haben, entwickelt der Roman eine Tiefe, die gerade aufgrund der relativen Banalität der Ereignisse ihre Wirkung entfaltet. Unversehens gelingt es John von Düffel, in jedem seiner Protagonisten eine eigene Ahnung der unendlich komplexen Verschränkungen zwischen den Generationen einer Familie aufscheinen zu lassen. Am Ende ist es ein Tod, der die Houwelandts aufleben läßt - und der unterdrückte verwandtschaftliche Ähnlichkeiten in Chancen verwandelt: Vielleicht sei es ihm nicht gegeben gewesen, den Großvater "finden und lieben zu können in seiner Einsamkeit, aber er habe diese Möglichkeit sein Leben lang gespürt", sagt Christian in seiner Rede. John von Düffels Roman ist ein vorsichtiges Plädoyer dafür, diese Möglichkeit zu nutzen.
John von Düffel: "Houwelandt". Roman. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2004. 316 S., geb., 19,90 [Euro].
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