Outlet gesetzt.
Es gibt Zeitgenossen, zu denen im Moment auch der Rezensent zählt, die sind überzeugt, dass Janssen mit dem Schreibstift Bedeutenderes geschaffen hat als mit dem Zeichenstift oder Radiergriffel. Er war einer der ganz großen Epistolographen des letzten Jahrhunderts, vielleicht - medienbedingt - sogar der letzte. Dieses Blätterwerk wird auf rund 20 000 Briefe geschätzt und erreicht damit ungefähr den Pegel des zeichnerischen OEuvres. Und im wahrsten Sinne war Janssen ein Epistolographiker, denn es ging von ihm kein Brief ohne Randzeichnung raus.
Weiterhin, im Medium Schrift bleibend: Er hat hinreißend sein Leben nachgedichtet. Und es hat vielleicht keinen Künstler gegeben, der so witzige, aber auch so zer- und verstörende Bildunterschriften erfunden hat. Paul Klee, wird eingewandt. Gut, Klee ist ein ernsthafter Konkurrent auf dem Gebiet des so dahingeschriebenen und gleichzeitig höchste Anforderungen stellenden Titels: "dort war einmal ein Gemüsegarten", das könnte auch von Janssen stammen, aber "Wenn Du magst ... bleib doch", das ist nur von Janssen zu haben und "Selbst-innig" und "Selbst, nur so" erst recht. Im Grunde hat er alles adressiert, was er schuf: an andere und an sich selbst, und der Unterschied ist oft nicht sehr groß.
Aber hätte man alles Lang- und Kurzschriftliche gesichert, bliebe immer noch ein riesiger Verlust: die wörtliche Rede. Joost van den Vondel hat ein Gedicht auf ein Rembrandt-Porträt des zu seiner Zeit berühmten Predigers Anslo mit dem Befehl begonnen: "Rembrandt, mal Anslos Stimme!" Jetzt erfahren wir von Janssens Biographen Henning Albrecht, dass eine Freundin ihre Telefonate mit dem Künstler mitgeschnitten hat. Das wär's: zehn CDs Originalton Janssen - flachestes Nölen, scheinbar auf Dauer gestelltes "Nur so" - und dann wie ein Blitz ein Aperçu, gefolgt von einer selbstverliebten Pause für den Beifall. Schade, dass er die Cover nicht mehr entwerfen kann. Janssen, zeichne Janssens Stimme!
Janssen hieße in England "a wit", und Laurence Sterne wäre sein Vormund. Dass Sterne auf der ersten Seite seines Romans die Zeugung des Titelhelden Tristram Shandy mit dem Zwischenruf der Mutter unterbrechen lässt: "Hast du auch nicht vergessen, die Uhr aufzuziehen, lieber Mann?" - das hat Janssen gefallen. Mal abgesehen davon, dass Janssen vom Akt seiner Zeugung und vor allem von seinem Vater nichts wusste. Als er viele Jahrzehnte später erfuhr, dass es sich um einen Vertreter gehandelt hatte, wollte er in einer großen Zeitungsanzeige dessen Vaterschaft widerrufen und als seine echten Erzeuger Dürer, Hokusai und Menzel einsetzen lassen.
Die Mutter konnte Janssens Lebensuhr nicht lange aufziehen helfen, sie starb früh, und ihr Sohn musste das schon selbst besorgen, so sehr selbst, dass er es den Lebensabschnittsbegleitern unendlich schwer machte, um ihnen und der Welt kundzutun, wie schwer er es hatte. Das mit dem "Sich-selbst-Erfinden" ist mittlerweile ziemlich abgegriffen, aber hier wollen wir es dem Biographen durchgehen lassen, dass er es so oft benutzt: Janssen hat sich nach jedem Kind, nach jeder Frau, nach jeder Ehe (eine dauerte zwei Wochen), nach jeder Phase, nach jeder Katastrophe und nach jedem Absturz in Alkohol und Medikamentenmissbrauch neu erfunden, man könnte auch sagen: neu erzeugt, biographisch und künstlerisch. Und blieb doch Janssen: nicht das letzte Künstleroriginal, aber das letzte Künstleroriginal, das an Originalität glaubte und sie öffentlich produzierte.
In Hamburg, seiner Stadt, existierte parallel zu ihm eine Künstlerin, die vom anderen Ende des sozialen Spektrums kam und Originalität als die Erbsünde der Kunstgeschichte bekämpfte. Hanne Darboven ist ihr Name, auch sie kritzelte und strichelte wie ihr Antipode, aber sie strich die Daten eines gedruckten Kalenders aus, während Janssens Tagewerk letztlich Tagebuch, wenn nicht Krankenakte war.
Horst Janssen hat nun also seine Biographie erhalten, sechshundert Seiten lang, die Anmerkungen nicht mitgezählt, ähnlich reichhaltig und polymorph wie der Künstler selbst. Der Autor, ein Spezialist im Fach Lebensbeschreibung, hat sich sehr tief ins Material gekniet beziehungsweise dieses erst einmal ans Tageslicht gefördert.
Er hat ebenso viel Neues oder wenig Bekanntes mitzuteilen wie Falsches oder Verbogenes zurechtzurücken. So etwa die falschen Informationen, die Janssen selbst ausstreute: Was Geschichte und besonders die eigene anging, folgte er dem Grundsatz: Wahr ist egal, gut muss die Geschichte sein. Dass trotzdem, auf der Basis überprüfter Wahrheiten und neuer Erkenntnisse, eine gute Geschichte daraus geworden ist, gilt es hoch anzuerkennen.
Die Hamburger können dieses Gesellschaftsbild ihrer scheinbar nicht verrückten Stadt mit Gusto lesen, die "Ausheimischen" dürfen staunen. "Wo haben Sie das nur her?", so würden ihn immer die Männer in seinen Ausstellungen fragen, sagte Janssen einmal. Wo hat Albrecht das alles nur her? Eine Antwort lautete zum Beispiel "STAHH (für: Staatsarchiv Hamburg), 331-1 II Polizeibehörde II, vor. Sign. Mordhandakte 1953 Janssen" - Mordhandakte Janssen? Alles Weitere im Buch nachzulesen. Der Autor hat sechzig Zeitzeugen befragen können, und er hat Lebensgefährtinnen (bis auf eine, verstorbene) interviewt, was nicht gleich sechzig, aber doch eine Zahl im niederen zweistelligen Bereich ergibt.
Janssen war freundschaftssüchtig, aber als Egomane nicht unbedingt freundschaftsbegabt, jedoch konnte wohl kaum jemand die unvermeidlichen Kränkungen, Ausfälle, Treuebrüche genialer zurücknehmen und scheinbarer ungeschehen machen als dieser Virtuose des "Verlass mich nicht!". "Schenk-Chaos" nannte das Fritz J. Raddatz. Was die Gattungen und Techniken der Künste anbelangt, war Janssen nicht wirklich erfinderisch. Er nahm immer gerne, was sich bewährt hatte, solange er sicher war, dass sein Lebenszeichen, der auf- und abschwellende Strich, die bald dynamische, bald verzweifelt brüchige Linie transportiert wurde.
Aber das Genre des künstlerischen Kniefalls, der exzessiven Bitte um Vergebung, das ist Janssens große Spezialität - man könnte eine eigene Ausstellung zu dem Thema "Janssen entschuldigt sich" veranstalten. Dass der frühere Mitherausgeber dieser Zeitung, Joachim Fest, ein Antipode in fast jeder Hinsicht, es so lange mit ihm aushielt (und Janssen mit ihm) und zum Empfänger manch zerknirschter Gabe wurde, das hatte eines der schönsten und klügsten Bücher im Fach "Schwierige Menschen in meiner Nähe" zur Folge. Und es hat jetzt Konkurrenz bekommen.
WOLFGANG KEMP
Henning Albrecht: "Horst Janssen". Ein Leben.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 719 S., Abb., geb., 29,95 [Euro].
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