dagegen haben, daß die peinliche Geschichte hinterher die Runde macht. Womit wir schon bei dem Quellenproblem sind, das sich bei Schnitzers germanistisch-kunsthistorischer Dissertation in besonderem Maße stellt.
Maskeraden sind gesellschaftliche Anlässe, die einem anderen als dem üblichen Sozialcode folgen. Die spannende Frage ist, wie stark mit dem aufkommenden Zwang zur Verkleidung andere Zwänge weichen. Gibt es womöglich so etwas wie eine Reziprozität? Claudia Schnitzer kann an unzähligen Beispielen belegen, daß sich auf diesem Feld nicht viel tut. Die Regeln, die die höfische Gesellschaft insgesamt beherrschen, bleiben auch im Zustand des Maskiertseins erhalten. Der Dispens von Hierarchisierung, Rangordnung und Pflicht zum standesgemäßen Aufwand ist nur Illusion; in Wahrheit trifft der Rollenzwang die hohe Gesellschaft an den Feiertagen ebenso schlimm wie an Werktagen: andere Kleider, gleiche Sitten. Statt zeremoniellfreier Räume gibt es höchstens Zeremoniellüberführung und -reduktion. Raffiniert formuliert Schnitzer in diesem Zusammenhang, daß sich das Zeremoniell selbst "verkleidet" habe: Das Vortrittsrecht des Ranghöheren bleibt auch bei den höfischen Lustbarkeiten erhalten, hinzu kommt bloß die bäuerische Verkleidung à la mode, die das Gegenüber ganz honnêtte und courtois zu komplimentieren hat.
Alles andere wäre ja auch ein Wunder. Denn der Fürst richtet die gesellschaftlichen Ereignisse aus, um seine Reputation zu steigern, nicht um seine Autorität zu untergraben. Er wünscht sich, daß man sich in ganz Europa zuraune, wie splendid und prächtig es an seinem Hofe zugehe. Die anwesenden Gesandten sollen in ihre Gesandtenberichte schreiben, wie beeindruckt sie waren, die gedruckten Festbeschreibungen schrieb man lieber gleich selbst, oft sogar schon vor dem Ereignis. Gelingen war also Programm. Das offenkundige Überlieferungsproblem, das gescheiterte Repräsentationsversuche dann haben, bewältigt Claudia Schnitzer, indem sie neben den offiziellen und offiziösen Machwerken in großem Umfang Archivalien ausgewertet hat. Und in der Tat findet sich gelegentlich der eine oder andere Hinweis, daß es in der Praxis nicht so lief, wie es sich die Theoretiker der frühmodernen Herrschaftsrepräsentation vorstellten. Nicht von ungefähr überwachte man damals aus Furcht vor Unanständigkeiten im Mummenschanz die Teilnehmer streng.
Noch ergiebiger ist Schnitzers große Quellennähe bei der Frage nach der Ausstattungspraxis an den Höfen. Denn gerade bei den Textilien stand die Dauerebbe in der fürstlichen Schatulle dem Wunsch nach betörendem Aufwand und nie ermüdender Abwechslung entgegen. Folgerichtig wurden die fürstlichen Kleider aufbewahrt, die Stoffe sorgsam inventarisiert und für den nächsten Anlaß dann umgearbeitet. Auch der übrige Hofstaat machte es nicht anders. Sosehr man sich seiner Nähe zum Thron freute, so sehr drückten doch die wiederholten Einladungen aufs Portemonnaie. Der Gastgeber gab zu allem Überdruß ständig andere Motti vor und erwartete Einfallsreichtum, welchen der Hofstaat noch selbst zu finanzieren hatte. Denn die Zeiten, in denen der Herrscher seine Hofangehörigen noch einkleidete, waren längst vorbei, als die Hofkultur in Mitteleuropa ein letztes Mal aufblühte. Der Herrscher gab seinen hohen Hofmitgliedern das Gefühl, etwas Besseres als die uniform gekleideten niederen Chargen zu sein, indem er sie ihre Kleidung frei auswählen ließ. Zugleich wälzte er damit die Kleiderkosten auf sie ab.
Wie man sieht, steht auch hinter Schnitzers Beschreibungen insgesamt das von Norbert Elias in den dreißiger Jahren entwickelte Funktionsmodell der höfischen Gesellschaft. Elias las seinerzeit die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon und induzierte über diese eine Quelle eine wirkungsmächtige Theorie, wonach der Fürst den Adel an den Hof gezogen, dort wirtschaftlich geschwächt und schließlich politisch marginalisiert habe. Der Hofkultur kam dabei eine Schlüsselstellung zu: Da Imitation die Fundamentalmaxime des Normativsystems Sitte ist, kommt man ihren Moden mit wirtschaftlicher Kritik oder theologischen Bedenken nicht bei. Egal wie teuer, albern oder sündhaft, alle mußten mitmachen und nachahmen. Über Norbert Elias hinauszukommen hieße, in solchen quellengesättigten Einzelstudien selbst Theorie aufzubauen und eventuell ein eigenes Modell des Staatsbildungsprozesses anzubieten. Es muß ja nicht alles so gewesen sein, wie es der verbitterte Herzog am Hofe Ludwigs XIV. glaubte.
Claudia Schnitzer verfolgt diesen Strang nicht, auch wenn ihr Buch reichlich wunderbares Material für eine bestätigende Modifikation der Eliasschen Argumentation bietet. Statt dessen entwirft sie ein überzeugendes theoretisches Modell der Abfolge verschiedener Typen historischer Maskeraden. Danach bilden die Mummereien im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert das früheste höfische Verkleidungsdivertissement. Ihnen folgen die Ritterspiele und Verkleidungsbankette, die beide bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Gebrauch bleiben. Am spätesten erscheinen die Maskenbälle, die vom späten siebzehnten Jahrhundert an zur beliebtesten höfischen Lustbarkeit aufsteigen. Da es sich bei diesem Quartett um Idealtypen handelt, kreuzen sich die Maskeradenformen allenthalben.
Wegen ihrer grundsätzlichen Gemeinsamkeiten können der jeweilige Grad an Repräsentationsleistung und das Spannungsverhältnis zu anderen Identitätsentwürfen die Leitfrage bei Schnitzer sein: In allen detailliert geschilderten historischen Fällen interessiert die Autorin letztlich das Verhältnis von zeremoniellstützenden zu zeremoniellunterwandernden Tendenzen. Das Verkleidungsinkognito etwa erlaubte einen Verzicht auf Titulaturen. Sonst war es nicht weit her mit dem Dispens von der üblichen Hierarchie. Oft trug man gar Abbreviaturen, die den eigentlichen Stand anzeigten. Der Materialwert und die Verarbeitung der Stoffe taten ein übriges, um die Kollegen nicht vergessen zu lassen, daß man auch im Mummenschanz wer war oder gar nach Höherem in der Firma des Fürsten strebte. So- viel an die Adresse der modernen Kulturkritik, die uns immer vorwirft, wir hätten das ausgelassene, sich selbst vergessende Feiern verlernt.
Der seinerzeitige Zwang zum standesgemäßen Aufwand ist übrigens von der höfischen Gesellschaft auf die heutigen Hofforscher übergegangen: Auf dreihundertachtzehn hochwertigen Tafeln, alle in vorzüglicher Druckqualität, bebildert Claudia Schnitzer ihre Quellenstudien, ein Buch im Buche, dessen Erwerb wahrscheinlich die interessierten Forscherkollegen wirtschaftlich schwächen soll - wenn diese nur auf den nicht eben billigen Trick hereinfallen.
MILOS VEC.
Claudia Schnitzer: "Höfische Maskeraden". Funktion und Ausstattung von Verkleidungsdivertissements an deutschen Höfen der Frühen Neuzeit. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1999. 465 S., 318 Abb., geb., 258,- DM.
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