Werten des Judentums geführt habe. Der Holocaust sei zu einer Strategie worden, auf die im Kampf gegen militante Araber, beim Siedlungsbau und wo auch immer ohne weitere Argumente verwiesen werde. Dem will Burg eine "neue Vision" entgegensetzen - für sein Land. Denn das 2007 erschienene Buch richtet sich an die dortige Gesellschaft, will sie zum Andersdenken auffordern. Die deutsche Ausgabe sollte man als Ausdruck einer innerisraelischen Debatte zum eigenen Selbstverständnis 65 Jahre nach dem Holocaust betrachten.
Burg wurde 1955 in Jerusalem geboren. Sein Vater Josef stammte aus Dresden, floh 1939 nach Palästina und gehörte als Minister der Gründergeneration des jüdischen Staates an. Und so durchzieht Burgs Haltung einer gewissen Überlegenheit der eigenen Persönlichkeit und gelebter Privilegien das Buch. Seine zentrale These, dass Israel den Holocaust als "Entschuldigung und Triebkraft jeglichen Handelns" gewissermaßen missbrauche, flankiert er mit Erinnerungen an seine Eltern, weitschweifenden Überlegungen zum Wesen des Judentums und einer Analyse der Entwicklung seines Landes. Prägend sei noch immer das Gefühl "Die ganze Welt ist gegen uns!", wenngleich sich diese Welt seit 1948 verändert habe, was im jüdischen Staat bewusst ignoriert werde. Das junge Israel brauchte beim Aufbau keine Vielfalt jüdischer Herkünfte, sondern eine kampfbereite Einheit von Israelis. Man entwickelte "Muskeln, aber keine Seele".
Burg ist nicht der Erste, der im Prozess gegen Adolf Eichmann (1961) ein "Initiationsritual" sieht, in dem Israel sich als Opfer bestätigte; er begreift Eichmanns Tod als Hinrichtung des alten Deutschland. Denn es verhandelte damals nicht der Staat Israel gegen die Person Eichmann, sondern das Volk Israel gegen "die Nazis". Mit seiner Erhängung übernahm das Land den Holocaust als alleiniges "Eigentum"; man richtete sich auf einem "Auschwitzplaneten" ein. Die Schoah durchdringe heutzutage alles: "Israel erklärte sich zum Erben der Opfer, zu ihrem alleinigen offiziellen Vertreter in der Welt und ernannte sich zum Sprecher der ermordeten Millionen. Wir bürgerten sechs Millionen Tote ein." Die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem sei integraler "Teil des Rituals dieser neuen israelischen Religion". Der Massenmord sei das sinnstiftende Element und bestimme das Nationalbewusstsein. Derart aus dem historischen Kontext gerissen, diene der Holocaust als "Entschuldigung und Triebkraft jeglichen Handelns". Denn, so die herrschende Staatsmeinung, hinter jeder Gefahr lauere ein neuer Holocaust, den es präventiv zu bekämpfen gelte. Dieses Vermächtnis der Unsicherheit sei "typisch für Traumaopfer". Doch den Deutschen wurde, nicht zuletzt wegen der geflossenen Gelder, verziehen; den Hass übertrug das Land auf einen neuen Feind, die Araber. Selbst israelische Araber würden als minderwertig wahrgenommen.
Burg fordert einen Neubeginn: Man dürfe nicht auf ewig "Geisel der Erinnerung" sein. Es bedürfe endlich der "Anerkennung des Leids und Übernahme der Verantwortung für das Elend der palästinensischen Flüchtlinge". Und gerade wegen der einzigartig-schrecklichen Erfahrung sei der Holocaust nicht allein jüdisches Vermächtnis, sondern eines der gesamten Menschheit, aus dem allerdings insbesondere für Israel eine entsprechende Verantwortung für Gegenwart und Zukunft erwachse. Burg beklagt den Egoismus, dass die gezogene Lehre lediglich heiße: Es dürfe nie wieder den Juden solch Leid zugefügt werden.
Viele Argumente in Burgs Buch sind zweifelsohne bedenkenswert, über Israel hinaus. Doch die Markigkeit seiner Worte bleibt oft plakativ. Sie klingen nicht selten nach der Gekränktheit einer enttäuschten Liebe. Aber "Hitler besiegen" ist auch ein beredtes Zeugnis für das - bei aller etwaigen Kritikwürdigkeit - in Israel Erreichte: die freie Meinungsäußerung, die allein der jüdische Staat als einzige Demokratie in der gesamten Region uneingeschränkt gewährleistet. Das ist dem Autor in seinem Furor keine Zeile wert, wohl weil es für ihn als Israeli schlicht selbstverständlich ist.
UWE NEUMÄRKER
Avraham Burg: Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2009. 280 S., 16,90 [Euro].
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