beteiligt, klangvolle Namen wie Hermann von Helmholtz und Emil du Bois-Reymond sind mit ihr verknüpft. Kaum zu überblicken sind die Umstellungen des experimentellen Aufbaus, die wechselnden Interessen, die Aufzeichnungmethoden und Versuchsobjekte, die Libets These den Weg bahnten, und mehr noch: sie teils schon vorwegnahmen.
Die wuchtige Studie des Wissenschaftshistorikers Henning Schmidgen folgt dem Gang dieser Versuche zur Freude des Physiologiehistorikers und zur Mühsal des Laien bis hin zur kleinsten experimentellen Stellschraube. Damit wird die Annahme, man habe beim Experimentieren in den Laboren von Heidelberg, Berlin, Königsberg oder Amsterdam schon immer gewusst, wo man später einmal landen werde, zwar wirksam zerstört, aber es stellt sich auch die Frage, ob es aus verlegerischer Sicht nicht sinnvoll gewesen wäre, dem breiten Publikum eine weniger detailreiche Version zu präsentieren.
Es dauert einige hundert Seiten, bis ein erzählerisches Plateau erreicht ist, von dem aus der Leser auch gern den Seitenwegen der Experimentalgeschichte folgt, weil er sie als relevant für den Hauptstrom begreift, und dargestellte Nebengleise und Sackgassen der Forschung Eigengewicht gewinnen. Unbestreitbar ist Schmidgen aber ein eleganter Erzähler. Etwas zugespitzt könnte man von der romanesken Struktur wissenschaftlichen Fortschritts sprechen, gespiegelt in der Form ihrer Präsentation.
Wer doch ein Zentrum in diesem Geflecht sucht, ist mit Hermann von Helmholtz gut beraten. Der berühmte Physiologe kam in seinen Versuchen zur Messung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Reizes in den Nervenbahnen dem verspäteten Bewusstsein als einer der Ersten auf die Spur - sofern man nicht auf Schopenhauer Spekulationen zurückkommen möchte, die in ähnliche Richtung wiesen. Für die praktischen Interessen, resümierte Helmholtz damals, spiele die Verspätung allerdings keine Rolle.
So steht es in einem Forschungsbericht von 1850, der Helmholtz' Messungen am Froschmuskel zusammenfasst. Neu waren diese Versuche darin, dass sie die Reizgeschwindigkeit direkt am Muskel maßen, sich also von psychologischen Faktoren unabhängig machten. Freilich brachte das eine Verengung des Erkenntnisspektrums auf unwillkürliche, zumindest unreflektierte Bewegungen. Wie ging Helmholtz vor? Er stimulierte verschiedene Punkte auf den Nervenbahnen, die zu dem Froschmuskel führten, und leitete aus der zeitlichen Differenz der jeweiligen Muskelreaktion die Impulsgeschwindigkeit ab. Das Ergebnis, also die Zeit, die das Bewusstsein der Wahrnehmung hinterherläuft, pendelte sich bei einer Zehntelsekunde ein. Beim Wal dauert es demnach fast eine Sekunde, bis er merkt, dass ihn die Schwanzflosse juckt. Als Helmholtz das Experiment vom Frosch auf den Menschen übertrug, wuchs auch das öffentliche Interesse.
Von Helmholtz macht Schmidgen einen Sprung von fast hundert Jahren zur Kybernetik. In ihrem Versuch, den menschlichen Organismus als Schaltkreis zu konfigurieren, stießen nämlich auch die Kybernetiker auf einen Grundtakt, eine Art innere Uhr, die allen Körperprozessen zugrunde liegt. Es war genau jene Helmholtzsche Zehntelsekunde. Was aus dieser Erkenntnis folgt, bleibt leider offen. Es schließt sich immerhin der Kreis zu Benjamin Libet, der an den kybernetischen Versuchen beteiligt war. Im Unterschied zur klassischen Kybernetik, die den humanen Faktor als Black Box konzipierte, als Teil unter anderen im technischen Versuchsapparat, brachte Libet Begriffe wie Wille und Bewusstsein in die Diskussion zurück.
Das alte Vokabular der Psychologie war da schon lange unter Beschuss geraten, die willentliche Lenkung des Bewusstseins vielfach vom transzendenten Vermögen zur reinen Illusion zurückgestuft worden. Es war der Freiburger Psychologe Hugo Münsterberg, der Ende des 19. Jahrhunderts Begriffe wie Überlegung und Wille in Anführungszeichen setzte, weil er jede Willenshandlung für genauso bedingt und reflexhaft wie die Muskelzuckungen eines Froschschenkels hielt. Hier war das Seelenleben ausdrücklich nur noch Epiphänomen, ein passives Anhängsel des Körpers. In Pointenform: Wir zittern nicht, weil wir Angst haben, sondern wir haben Angst, weil wir zittern.
Schmidgen lässt Zweifel an der Reduktion der Psyche auf das Reflexhafte zwar anklingen, eine Einordnung von Libets Experiment vermisst man jedoch. Nicht nur, weil das Leserinteresse damit zu Beginn geködert wurde, sondern auch als Auskunft über die Erkenntnisgrenzen der Psychophysiologie. Allein die kaum zu klärende Frage, auf welchen Impuls die experimentelle Erforschung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit zurückgeht, könnte ein Anlass sein, den Willen nicht so schnell auszusortieren.
THOMAS THIEL.
Henning Schmidgen: "Hirn und Zeit". Die Geschichte eines Experiments 1800-1950. Matthes & Seitz, Berlin 2014. 698 S., Abb., geb., 49,90 [Euro].
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