Ostasien, Afrika und Europa neue Konflikte aus.
Die "Zwischenkriegszeit" bildet auch die Folie der hier anzuzeigenden Untersuchung von Thomas Brückner über die Beziehung zwischen der Schweiz und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) - der Begriff wird verwandt, obwohl es eine solche für die neutrale Schweiz nicht gab. Dennoch bildeten die Jahre 1919 bis 1939 auch für das Verhältnis zwischen dem offiziellen Bern und dem Genfer IKRK eine eigene Epoche. Humanitäre Hilfe und Spendenaufrufe etwa mit Blick auf die Hungersnot in Russland infolge des Bürgerkriegs sowie später in Äthiopien und Spanien gab es zwar weiterhin, sie standen aber nicht mehr so stark im Fokus.
Inhaltlich bildete die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen ein wichtiges Ziel der schweizerischen Diplomatie, wie sich früher bereits bei der Erarbeitung der Genfer Konventionen sowie auf den Haager Friedenskonferenzen gezeigt hatte. Nun jedoch sollten die Lehren aus den Erfahrungen der Jahre 1914 bis 1918 gezogen werden. Schweizer Regierung und IKRK agierten dabei Hand in Hand, insbesondere bei der Einberufung und Durchführung einer internationalen Konferenz 1929 in Genf, auf der ein verbesserter Schutz von Kriegsgefangenen beschlossen wurde; hingegen scheiterte der Versuch, selbiges für den Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten zu erreichen.
Organisatorisch standen die Berner Regierung und das IKRK vor einer besonderen Herausforderung, denn in der humanitären Bewegung zeigte sich seit Beginn der 1920er Jahre der Spaltpilz. Die von den Vereinigten Staaten ausgehende Liga der Rotkreuzgesellschaften machte dem IKRK direkt Konkurrenz, indem es die Vertretung der nationalen Rotkreuzverbände für sich reklamierte. Als ihren Sitz wählte die Liga Paris und machte damit auch räumlich die Entfremdung vom Genfer IKRK deutlich. Den von der Liga aufgeworfenen institutionellen Fragen stellte die Eidgenossenschaft den Geist Henri Dunants entgegen. Im Jahre 1926 lud die Schweizer Regierung Vertreter von Liga und IKRK nach Bern zu einer Spezialkonferenz ein.
Ein Durchbruch gelang nicht, doch 1928 kam es schließlich zu einer Einigung, durch die das IKRK seine Sonderstellung in Teilen bewahrte. Das überragende Interesse der Schweiz - das wird nicht recht deutlich - bestand dabei darin, vom humanitären Image der Genfer zu profitieren, weißes und rotes Kreuz sollten zusammengedacht werden. Bis heute ist es für die Schweiz vorteilhaft, dass das Rote Kreuz sich in der Regel unterschiedslos allen Parteien eines Konflikts zuwendet, so dass diese Art humanitärer Hilfe mit der Neutralität des Landes kompatibel ist und diese aus der Sicht ihrer Befürworter sogar sinnvoll ergänzt.
Personell trug das "Schisma" innerhalb der humanitären Bewegung dazu bei, die Bande zwischen der offiziellen Schweiz und dem IKRK weiter zu festigen. An der Spitze des IKRK stand bereits seit 1910 der Genfer Politiker Gustave Ador, der 1917 bis 1919 Mitglied des Bundesrates war und in seinem letzten Amtsjahr zudem das Amt des Schweizer Bundespräsidenten versah. Von seinem Renommee und Einfluss profitierte das IKRK in der Auseinandersetzung der 1920er Jahre. Auf den nicht ganz unberechtigten Vorwurf, das IKRK sei ein Club von reichen Genfer Patriziern, wurde mit einer Öffnung im nationalen Rahmen reagiert. Mit dem aus dem Tessin stammenden Außenminister Giuseppe Motta und dem Deutsch-Schweizer Völkerrechtsexperten Max Huber wurden 1923 zwei Prominente aus den anderen Landesteilen neue Mitglieder des IKRK. Huber folgte Ador 1928 als Präsident nach.
Insbesondere mit Blick auf die internen Konflikte sowie auf das Selbstverständnis der Rotkreuzbewegung kann Brückner interessante Details liefern. Die Form, in der das geschieht, ist gleichwohl nicht durchweg ein Lesegenuss, was mit der - heute häufig erwünschten - Theorielastigkeit zusammenhängt; dabei lehnt sich der Autor an die Theorie des Gaben-Tausches des französischen Soziologen Marcel Mauss an. Man muss ja nicht unbedingt so weit gehen wie Leopold von Ranke, der Geschichtsschreibung - auch - als Kunst verstand, jedoch würde man sich als Leser zuweilen mehr Lebendigkeit wünschen.
Einen schönen Beleg dafür, welchen Wert die Quellen an sich besitzen, bietet die Eröffnungsrede des Schweizer Bundespräsidenten Robert Haab auf besagter Genfer Konferenz zur Verbesserung der Lage von Kriegsgefangenen im Jahre 1929, in der er - einer damals verbreiteten Grundstimmung Ausdruck verleihend - die Frage aufwarf, ob es überhaupt opportun sei, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, schließlich erscheine der Krieg heute nur noch als weit entfernte, unwahrscheinliche Möglichkeit. Er sollte sich irren.
PHILIP ROSIN
Thomas Brückner: Hilfe schenken. Die Beziehungen zwischen dem IKRK und der Schweiz 1919-1939. Verlag Neue Züricher Zeitung, Zürich 2017. 272 S., 48,- [Euro].
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